
Abb. 1. Ein Punktdendrometer besteht aus einem elektronischen Sensor montiert auf einen Karbonrahmen, der die Stammradiusänderung alle 10 Min. misst. Stammdickenänderungen entstehen hauptsächlich im elastischen Gewebe der Rinde, neue Zellen im Kambium. Foto: Roman Zweifel (WSL)
Ein Baum, der in der Dunkelheit wächst – was zunächst paradox klingt, ist wissenschaftlich belegt. Die Langzeitmessungen des schweizweiten Messnetzwerks TreeNet zeigen: Bäume wachsen vorwiegend in der Nacht. Möglich machen diese Aussage hochpräzise Punktdendrometer, die den Stammradius mit Mikrometer-Genauigkeit erfassen – alle zehn Minuten, rund um die Uhr. Die Messungen liefern nicht nur Daten über das Wachstum, sondern auch über den Wasserhaushalt der Bäume. Daraus lässt sich ableiten, wie Baumarten generell mit Trockenheit umgehen und welche Arten besonders empfindlich oder robust sind. Diese Erkenntnisse könnten die Art und Weise verändern, wie die Auswirkungen des Klimawandels auf Wälder zu beurteilen sind.
Das TreeNet-Netzwerk
TreeNet ist ein Umwelt-Monitoring-Netzwerk zur Messung von Baumwachstum und Trockenheit. Es ist eingebettet in ein internationales Netz aus Umweltmonitoring-Systemen (LWF, ICOS, eLTER, ICPForests) und wird von Institutionen wie der Eidg. Forschungsanstalt WSL, ETH Zürich, Uni Basel, Uni Zürich, IAP Witterswil und dem BAFU getragen.

Abb. 2. Punktdendrometer.
Foto: Roman Zweifel (WSL)
Seit 2011 misst TreeNet kontinuierlich die Stammradien an unterdessen über 70 Standorten und mehr als 600 Bäumen in der Schweiz. Eingesetzt werden sogenannte Punktdendrometer – Sensoren, die alle zehn Minuten mikrometergenaue Daten liefern.
Stammradiusänderungen bedeuten entweder zelluläres Wachstum (Zuwachs an Holz und Rinde) oder eine Stamm-Schrumpfung oder -Ausdehnung, die durch die unausgeglichene Wasserbilanz zwischen Wasserverlust (Transpiration in den Blättern) und Wasseraufnahme (in den Wurzeln) entsteht.
Aus diesen Daten lassen sich drei zentrale Kenngrössen zum Baumwachstum ableiten:
- Stammwachstum: Zuwachs durch Zellbildung
- Baumwasserdefizit (TWD): aktueller Wassermangel im elastischen Stammgewebe
- Maximale Stammschrumpfung (MDS): Indikator für das Wasserspeichervermögen eines Baumes
Der Radius von Stämmen schrumpft und dehnt sich unter dem Einfluss von Wasserstress in einem Bereich von 1–300 Mikrometer pro Tag. Diese Schwankungen werden vom Wachstum von Holz- und Rindenzellen überlagert, das durchschnittlich etwa 5–30 Mikrometer pro Stunde beträgt.
Gleichzeitig werden an diesen Standorten Boden- und Klimadaten erfasst, etwa Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit und Bodenwasserpotenzial, die mit den Werten zu den Veränderungen im Baum in Verbindung stehen. Alle Daten fliessen automatisiert in eine zentrale Datenbank von TreeNet, wo sie standardisiert ausgewertet werden.
Warum Bäume nachts wachsen
Die Auswertung von über 57 Millionen Messpunkten in einer grossen TreeNet-Studie zeigt: Bäume wachsen mehrheitlich in der Nacht. Der Grund liegt im Wasserhaushalt der Pflanzen. Tagsüber verdunstet Wasser über die Spaltöffnungen der Blätter (Transpiration), was zu einem Rückgang des Turgors (Innendruck der Zelle) im Kambium (zellbildendes Gewebe) führt – das Wachstum stoppt. Erst in der Nacht, wenn die Verdunstung abnimmt und der Baum wieder mehr Wasser aufnimmt als verliert, steigt der Druck im Kambium – und Zellteilung sowie Zellstreckung werden möglich.
Entscheidend für das Baumwachstum ist weniger, wie lang die jährliche Vegetationsperiode dauert, sondern wie viele Stunden oder Tage innerhalb dieser Periode tatsächlich zum Wachstum genutzt werden können (Abb. 3).
Abb. 3. Der Puls einer Föhre über 21 Tage: Der Stammradius zieht sich ab dem Morgengrauen zusammen und dehnt sich nachts wieder aus. In trockenen Perioden (z.B. Tage 7–18) verbleibt der Stamm im geschrumpften Zustand. Nur bei wassergesättigten Bedingungen kann er wachsen. Quelle: Roman Zweifel (WSL)
Diese «Wachstumsstunden» hängen neben der Verfügbarkeit von Bodenwasser stark von der Luftfeuchtigkeit ab – genauer gesagt vom sogenannten Dampfdruckdefizit (VPD) das ein Treiber der Transpiration ist. Das VPD ist nachts geringer (bzw. die Luftfeuchtigkeit höher) – ein wesentlicher Grund für das nächtliche Wachstum.
Trockenstress in Echtzeit sichtbar machen
Die Sensoren liefern nicht nur Daten über Wachstum, sondern auch über Trockenstress. Wenn ein Baumstamm schrumpft, liegt ein Wasserdefizit vor. TreeNet-Daten ermöglichen es, solche Stressphasen über die ganze Schweiz zu identifizieren. Die Plattform treenet.info veröffentlicht täglich aktualisierte Karten, auf denen sich ablesen lässt, wo welche Bäume unter Trockenheit leiden und wo sie wie stark wachsen (Abb 4).
Abb. 4. Aktuelles aufsummiertes Jahreswachstum, aktuelles Tageswachstum und aktuelles Wasserdefizit (Trockenstress) aller Bäume an einem Standort am 8. Juli 2025. Quelle und aktuelle Grafiken: treenet.info
Für die Forstpraxis ergeben sich aus diesen Informationen zusammen mit weiteren Indikatoren Frühwarnsysteme für Vitalitätsverluste, Standortprobleme für bestimmte Baumarten oder eine erhöhte Waldbrandgefahr (treenet.info/nowcasts). Auch die Landwirtschaft und die Öffentlichkeit können von dieser Früherkennung profitieren, da Waldbäume ein integrierendes, weitgehend unverfälschtes Bild von Trockenheit in der Luft und im Boden einer Region liefern und damit einen Hinweis darauf geben, wo Trockenheit unabhängig von landwirtschaftlichen Kulturen und Management gross ist.
Wachstum und Wassermanagement
Baumarten unterscheiden sich stark in ihren Eigenschaften, wie sie auf unterschiedliche Umweltbedingungen reagieren. Eine zentrale Kennzahl ist die sogenannte maximale tägliche Stammschrumpfung (MDS), ein Indikator für das Wasserspeichervermögen im Stamm. Innerhalb einer Art weisen grössere MDS-Werte auf mehr Wachstum hin. Im Artenvergleich jedoch wachsen Arten mit hohem MDS tendenziell weniger – vermutlich, weil grosse Speicher bei Wassermangel schwerer nachzufüllen sind.
Letztlich tragen drei Faktoren entscheidend zum Jahreswachstum einer Baumart bei: An wie viele Stunden pro Jahr sie wachsen können, wieviel sie durchschnittlich an einem Tag wachsen und wie gross die Wasserspeicherkapazität ist (Abb. 5). Die Anzahl Wachstumsstunden ist stark von den lokalen Feuchtigkeitsbedingungen in Luft und Boden bestimmt und kann von Jahr zu Jahr schwanken, während die anderen beiden Faktoren mehrheitlich durch die Baumart bestimmt ist und weniger von Umweltbedingungen abhängt.
Abb. 5. Das Wachstumspotential unserer Baumarten bzw. deren durchschnittliches Jahreswachstum wird durch die Anzahl Wachstumsstunden pro Jahr (je mehr, desto mehr), die Wachstumsraten pro Tag (je mehr, desto mehr) und die Wasserspeicherkapazität (je mehr, desto weniger) charakterisiert. Quelle: treenet.info
Bäume reagieren zudem mit einer Verzögerung auf die Bedingungen der Vorjahre – der sogenannte Legacy-Effekt. Dieser hängt mit der Speicherung von Kohlenstoff und Nährstoffen zusammen, die sich über Jahre auf- oder abbauen. Eng damit verbunden ist auch die Fähigkeit von Bäumen, jedes Jahr neue angepasste Strukturen wie mehr Wurzeln, mehr Leitgefässe, oder kleinere Blätter zu bilden.
Besonders leistungsfähig zeigten sich bei der Auswertung von TreeNet-Daten die Douglasie (Pseudotsuga menziesii) und die Weisstanne (Abies alba) mit bis zu viermal mehr nutzbarer Wachstumszeit als etwa die Flaumeiche. Die Flaumeiche wächst aber auch noch bei relativ trockenem Boden, sofern die Luftfeuchtigkeit hoch genug ist, während Arten wie die Weisstanne konstant feuchte Bedingungen benötigen: Standortgerechte Baumarten können ihre Wachstumsreserven besser nutzen.
Regionale Kartenanalysen zeigen zudem deutliche Unterschiede im langjährigen, durchschnittlichen Trockenstress: Die höchsten Belastungen treten im Wallis und an einzelnen Standorten der Nordschweiz auf, die geringsten im Mittelland (Abb. 6). Entscheidend für die Wüchsigkeit ist aber nicht nur das regionale Klima, sondern auch die Wahl der Baumart am jeweiligen Standort.
Neue Sicht auf Kohlenstoffdynamik von Wäldern
Dass Bäume nur während eines engen Zeitfensters von wenigen Stunden innerhalb der 24-Stunden eines Tages und somit nur während einer begrenzten Zeit über die gesamte Vegetationsperiode wachsen (aufsummiert etwa 15–30 Tage je nach Baumart) ergibt eine neue Sicht auf die Kohlenstoffdynamik von Wäldern: Da Kohlenstoffgewinn (Photosynthese während des Tages, ganze Vegetationsperiode) und Kohlenstoffverbrauch (Wachstum während der Nacht, nur während ca. 2–3 Monaten) zu anderen Jahres- und Tageszeiten stattfinden, reagieren diese zwei Prozesse auch unterschiedlich auf die dann herrschenden Witterungsbedingungen. Bisher verwendete Klima-Waldentwicklungsmodelle hingegen beruhen nur auf dem Wissen aus hauptsächlich Jahresmittelwerten des Wachstums, gehen also auf die tageszeitlich unterschiedlich vorkommenden Prozesse nicht ein. Diese Erkenntnisse könnten die Art und Weise verändern, wie die Auswirkungen des Klimawandels auf Wälder zu beurteilen sind, insbesondere wenn es um langfristige Vorhersagen der Kohlenstoffspeicherung von Wäldern unter zunehmend trockeneren Bedingungen geht.
Vom Punkt zur Fläche
TreeNet liefert präzise Daten zum Baumwasserdefizit an einzelnen Standorten. Doch wie lassen sich diese Informationen auf die Fläche übertragen? Neue Forschung zeigt, dass dies gelingen kann (Abb. 7): Einerseits über den Zusammenhang zwischen den Stammradiusänderungs-Daten und den Bedingungen in Luft und Boden, andererseits durch die Kombination von TreeNet-Messdaten mit Satellitenbeobachtungen (Sentinel-2). Beide Ansätze haben das Potential, Trockenstress-Signale von einzelnen Messstandorten auf ganze Waldregionen zu übertragen.

Abb. 7. Beispiel für eine Sentinel-2-Zeitreihe im Vergleich zu einer Zeitreihe zum Wasserdefizit von Bäumen anhand eines Punktdendrometers. Ein Sentinel-2-Raster mit einer Auflösung von 10 m wird über ein Luftbild desselben Standorts gelegt (Swisstopo, 2024), und mit den lokal gemessenen Baumdaten verglichen. Quelle: Bloom et al. (2005)
Fernerkundungsindizes wie NDVI, CCI und NDWI erfassen aus Satellitenbildern grosse Waldgebiete mit hoher räumlicher Auflösung wöchentlich. Zwar können sie die täglichen Schwankungen des Baumwasserdefizits noch nicht vollständig abbilden, doch liefern bereits monatliche Aggregationen belastbare Schätzwerte. Diese eignen sich für gewisse Managemententscheidungen, z.B. bei der Planung von Durchforstungen oder der Baumartenwahl unter Klimawandelbedingungen.
Fazit
Die TreeNet-Daten liefern wertvolle Grundlagen für die Forstpraxis sowie für die ökologische Waldforschung. Sie ermöglichen eine objektive Beurteilung der Baumvitalität in Echtzeit und helfen, passende Baumarten am richtigen Standort zu erkennen – besonders im Hinblick auf Trockenheitstoleranz. TreeNet ermöglicht:
- eine flächendeckende Überwachung des Trockenstresses und des Wachstums von Waldbäumen,
- artspezifische Unterschiede zu analysieren,
- die Unterstützung eines klimasmarten Waldmanagements durch gezielte Massnahmenplanung mit angepassten Baumarten
sowie - die Identifikation anfälliger Bestände – etwa durch artspezifische Beziehungen zwischen Fernerkundungsdaten und Baumwasserdefizit.
Weiterführende wissenschaftliche Publikationen
Etzold S., Sterck F., Bose A.K., Braun S., Buchmann N., Eugster W., … Zweifel R. (2022) Number of growth days and not length of the growth period determines radial stem growth of temperate trees. Ecol. Lett. 25(2), 427-439. doi.org/10.1111/ele.13933
Zweifel R., Sterck F., Braun S., Buchmann N., Eugster W., Gessler A., … Etzold S. (2021) Why trees grow at night. New Phytol. 231(6), 2174-2185. doi.org/10.1111/nph.17552
Zweifel R., Bachofen C., Basler D., Braun S., Buchmann N., Conedera M., … Walthert L. (2025) Wachstum und Trockenstress: physiologische Charakterisierung von Schweizer Waldbäumen. Schweiz. Z. Forstwes. 176(2), 99-105.
Bloom C.K., Koch T.L., Meusburger K., Zweifel R., Walthert L., Etzold S., … Baltensweiler A. (2025) Towards near real-time drought stress assessment in Europe's temperate forests – comparing remote sensing time series with continuous in-situ tree-level measurements. Ecol. Indic. 177, 113757 (15 pp.). doi.org/10.1016/j.ecolind.2025.113757












