Geschichte

Prähistorische Funde belegen, dass im kaukasisch-armenischen Gebiet schon früh Früchte der Edelkastanie gegessen und ihr Holz verarbeitet wurde. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wurde sie dort zwischen dem 9. und 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung als Fruchtbaum kultiviert. Danach erfolgte eine zügige Verbreitung nach Kleinasien und über Griechenland nach Italien.

Die geschäftstüchtigen Römer, die bereits die Veredelung durch Pfropfung beherrschten, brachten neben den Weinreben auch verschiedene Kastaniensorten über die Alpen nach Österreich (Steiermark), in die Schweiz (Tessin), Deutschland (u. a. Schwarzwald) bis ins südliche England. Dies wohl nach dem Grundsatz: Wo Wein gedeiht, wächst auch die Kastanie!

Seit der "Römerzeit" stand die Edelkastanie in hohem Ansehen und war eine wichtige Nahrungspflanze. Kirchenfürsten und Königshäuser liessen im Mittelalter Esskastanien an Orten pflanzen, wo nur schlecht oder kein Getreide angebaut werden konnte. Castanea sativa war vor allem in Berggebieten, wo lange und strenge Winter herrschten, als Kohlenhydratquelle wichtig. In vielen Regionen war die Kastanie, ob geröstet, gebraten oder zu Mehl verarbeitet, die einzige Nahrung für die minder bemittelte Bevölkerung. Kastanien waren ihr täglich Brot. Pro Familienmitglied wurde mit 150 – 200 kg Maronen gerechnet. Dies entsprach etwa dem jährlichen Ertrag eines Baumes.

Im 19. Jahrhundert setzte ein Rückgang der Kastanienkultur ein. Dafür verantwortlich waren einerseits die gefährlichen, durch Pilze verursachten Krankheiten "Tintenkrankheit" und etwas später der Kastanienrindenkrebs, vor allem aber brachte die nach der Entdeckung Amerikas in Europa eingeführte Kartoffel Abwechslung in den kulinarischen Alltag.

Name, Verbreitung und Standort

Kastanie leitet sich ab vom lateinischen "castanea", vom althochdeutschen "chestina" und vom mittelhochdeutschen "chesten". Dies widerspiegelt sich in zahlreichen Mundartformen in der Schweiz: Chestene, Chäschtibaum, Keschnäbaum, Kistelä, Chegele, Edu-Chestle, echti Kastanie sowie Marronibaum. Auch Orts- und Flurnamen zeugen von der Existenz dieser Baumart: Kastanienbaum (Abb. 2), Kestenholz, Kestenberg, Kastanienweid sowie La Chataine, Chataignier, Castagnola und Castaneda; aber auch in den Familiennamen: Kestenholz, Castagna, Casten, Castanet und De Castaign.

Bei den Araber hiess die Esskastanie "Schah balluth", übersetzt "Fürst der Eicheln". Den alten Griechen waren sie die "Eicheln des Zeus". Der lateinische Artname "sativa" bedeutet gesägt oder gepflanzt.

In der Schweiz sind etwa 2,3% aller Waldbäume Edelkastanien. Davon gedeihen 98% auf der Alpensüdseite (Tessin, Calancatal, Misox, Puschlav und Bergell). Die auf der Alpennordseite stehenden Edelkastanien wachsen hauptsächlich an den milderen Lagen am Vierwaldstätter-, Zuger- und Walensee sowie am Genfersee und im Unterwallis.

Die wärme- und lichtliebende Edelkastanie bevorzugt frische, lockere und tiefgründige sowie kalifreie, saure Böden. Sie ist äusserst empfindlich gegen Spätfröste. Auf der Alpensüdseite gedeiht sie bis etwa 1500 m ü. M.; nördlich der Alpen höchstens bis gegen 1000 m. ü. M.

Botanik

Trotz gleichem Namen und ähnlich aussehender Frucht ist die Edelkastanie nicht mit der Rosskastanie (Aesculus hippocastanum) verwandt. Die Rosskastanie ist ein Seifenbaumgewächs, die Esskastanie ein Buchengewächs. Markante Unterschiede zwischen Rosskastanien und Edelkastanien zeigen nebst der Baumform auch die Blätter.

Auf der Alpensüdseite kennt man rund 100 verschiedene Sorten der Esskastanie. Der knorrige, mit einer weitausladenden, rundlichen Krone versehende Fruchtbaum wird, je nach Standort, 20 – 30 m, in Ausnahmefällen bis 35 m hoch. Sein Stammdurchmesser variiert von 1 – 3 m. Beachtliche 400 – 600 Jahre, ausnahmsweise über 1000 Jahre alt, können Kastanien werden.

Der Stamm ist dank einem kräftigen, breiten Wurzelwerk gut im Boden verankert. In der Jugend ist die Rinde glatt und olivbraun. Im Alter wird sie zu einer netzförmigen, graubraunen, rissigen Borke, die meist spiralig um den drehwüchsigen Stamm verläuft. Die etwas ledrigen, zungenförmigen, stachelig spitzigen, wechselständigen Blätter (Abb. 3) sind sattgrün glänzend und am Blattrand gezähnt. Die Ende April, anfangs Mai austreibenden Blätter werden bis 25 cm lang und 8 – 10 cm breit.

Die männlichen und weiblichen Blüten wachsen gemeinsam (einhäusig) aus der Blattachse. Ende Mai bis Mitte Juli, 10 Tage früher als die weiblichen Blüten, bilden sich die 10 – 20 cm langen männlichen Blütenstände als perlschnurartig angeordnete gelblich-weisse, unangenehm riechende Knäuel aus Staubbeuteln (Abb. 4). Die weiblichen Blüten wachsen jeweils zu dritt an der Basis der männlichen Blütenstände. Sie sind weisslich und wesentlich kleiner. Bestäubt werden die Blüten durch Insekten, vor allem durch Bienen. Imker schätzen diesen Baum als Honigpflanze. Der kräftige etwas pfefferig und bitter schmeckende, bernsteinfarbige Kastanienhonig ist allerdings nicht nach jedermanns Geschmack.

Die im Oktober reifen, zugespitzten Früchte der Esskastanie (botanisch gesehen eigentlich Nüsse!) sind glänzend und 1 – 3 cm gross. Auf nicht veredelten Bäumen sind sie meist zu dritt von einem braungelben, stacheligen 6 – 10 cm grossen Fruchtbecher, der sogenannten Cupula, umschlossen, der sich bei der Reife mit vier Klappen öffnet (Abb. 5). Ist nur eine Frucht darin enthalten, gilt diese als Marroni, das Produkt einer speziellen Zuchtform. Für die Ausbreitung der "Plumpsfrüchte" sind verschiedene Tiere verantwortlich. Weil Eichhörnchen, Siebenschläfer, Mäuse, Häher und Krähen ihre versteckten Nahrungsvorräte nicht immer finden, keimen diese Früchte im kommenden Frühjahr.

Verwendung

Wohl keine andere Baumart kann eine so vielseitige Verwendung aufweisen wie die Esskastanie. Wo diese Baumart wuchs, liess sich der Mensch nieder. Wo der Mensch eine neue Bleibe suchte und fand, brachte er neben der Weinrebe auch die Kastanie mit. Das Kastanienholz lieferte zugleich die für den Weinbau benötigten Rebenstickel.

Manche Völker verdanken dem Marronibaum während Jahrhunderten ihr Überleben, so auch viele Bewohner des Tessins und Südbündens. Die nahrhafte Frucht, mit einem Zucker- und Stärkeanteil von 50 – 60% sowie 10% Eiweiss, kam geröstet oder gekocht auf den Esstisch. Zu Gries oder Mehl gemahlen liess sich Brot backen, Suppe kochen oder Polenta herstellen.

In der heutigen Küche schätzen Feinschmecker die spezielle Verwendung der Marroni als Vermicelles, als Püreé oder als Beilage in der Martinigans oder zu Wildgerichten. Neuerdings gibt es auch Kastanienbier. Und – Hand aufs Herz – wer kann in der vorweihnächtlichen Zeit dem verlockenden Duft beim Marronibrater widerstehen? Hinweis für Personen mit Zöliakie: Kastanien sind glutenfrei!

Das äusserst dauerhafte und biegsame Kastanienholz ist verschiedenartig verwendbar. Dank seiner Qualität und Widerstandsfähigkeit wird es im Lawinen- und Wasserverbau (Abb. 6), ebenso im Schiffsbau sowie für Telegraphenmasten, Eisenbahnschwellen, Pergola, Kinderspielplätze und Fassdauben verwendet.

Wegen dem sich farblich deutlich abgrenzenden schmalen, gelblich-weissen Splintholz und dem braunen Kernholz sowie der markant gestreiften Zeichnung ist das grobporige Kastanienholz als Konstruktionsholz und im Möbel- und Küchenbau sehr beliebt. Dank seiner guten Spaltbarkeit findet es noch heute Verwendung als Schindelholz für Chalets und historische Bauten. In der Vergangenheit hatte das Holz grosse Bedeutung zum Feuern und zur Erzeugung von Holzkohle. Des Weiteren diente die Rinde der Gewinnung von Tannin zum Gerben von Leder. Eine weitere Nutzung war im Mittelalter die Verwendung des Laubes als Streu.

Waldbauliche und ökologische Bedeutung

Bereits im frühen Mittelalter wurden die gepflanzten Edelkastanien Dank ihrer starken Ausschlagfähigkeit und ihrer starken Wurzelbrut im Niederwaldbetrieb bewirtschaftet, das heisst, alle 15 – 25 Jahre wurden die Bäume auf den Stock gesetzt. Das Holz wurde für Brennzwecke, als Pfähle sowie als Gerbrinde genutzt. Solche, ausserhalb des Waldes begründete Kulturen, sogenannte Selven (Abb. 7), befanden und befinden sich in der Nähe von Siedlungen im Tessin und in weiteren Alpensüdtälern. Die Selven lieferten auch Gras, Streu und Pilze und dienten als Weideland für Ziegen, Schafe und Schweine.

Schon in frühester Vergangenheit, aber auch heute noch, wird auch auf der Alpennordseite in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Österreich versucht, diese ästhetische, ökologische und kulturhistorische interessante Baumart mittels selvenartiger Bewirtschaftungsform zu nutzen und in waldbauliche Konzepte einzubeziehen und damit auch die Artenvielfalt zu fördern. Die schnellwüchsige Edelkastanie lässt sich im Hochwald gut mit anderen Laubholzarten, aber auch mit der Fichte mischen. Dies setzt allerdings einige intensive Pflegeeingriffe voraus.

Kastanienbäume bieten vielen Kleintieren, Reptilien und Vögeln Lebensraum und Nahrungsgrundlage. Speziell gilt das für Baumhöhlenbewohner wie Spechte, Wiedehopf, Siebenschläfer oder Fledermäuse.

Forstschutz

Der grösste "Feind" dieser Baumart ist der Kastanienrindenkrebs. Der aus Ostasien stammende, den Rindenkrebs verursachende Schlauchpilz wurde 1938 aus den USA mittels Kistenholz nach Europa eingeschleppt. Von 1948 bis zu Beginn der 1990 Jahre waren viele Kastanienbäume vor allem in den Alpensüdtälern, aber auch auf der Alpennordseite infiziert, serbelten dahin oder starben ab. Dank jahrzehntelangen Bemühungen in der Resistenz-Züchtung konnte die Gefahr grösstenteils gebannt werden.

Ein weiterer gefährlicher Schädling ist die durch einen Wurzelpilz verursachte Tintenkrankheit. Die von den Wurzeln aufsteigende schwarzfleckige Fäulnis kann ein Absterben der Kastanie bewirken. Weitere Schädlinge wie beispielsweise Gallwespen, Kastanienwickler und -bohrer sowie die Kastanienfäule sind von mehr oder weniger geringer Bedeutung.

Volks- und Heilkunde

In vielen Kastanienregionen wird noch heute der Martinstag (11. November) mit einem kleinen Feuer, jungem Wein und gerösteten Maronen gefeiert. Nicht zu vergessen ist die mit Kastanien gefüllte "Martinigans". Im Luzernischen Greppen, am Südhang des Rigi, findet jeweils am letzten Sonntag im Oktober die "Chestene Chilbi", verbunden mit einem grossen Kastanienmarkt, statt.

Die Redensart "Für jemanden die Kastanien aus dem Feuer holen", wurde vom preussischen Staatsmann Otto von Bismarck für seine politische Strategie etwas anders ausgelegt: "Wenn andere Leute sich dazu hergeben, die Kastanien für einen aus dem Feuer zu holen, warum soll man das ihnen nicht gerne überlassen?"

Nebst andern haben Johann Wolfgang von Goethe und Herrmann Hesse diese Baumart in Gedicht und Erzählung erwähnt. Bereits 1055 schrieb die Nonne und Heilkundlerin Hildegard von Bingen in ihrer "Physica": "Nur wenige Speisen sind ganz rein und gut für den Menschen. Dazu gehören Dinkel, Fenchel und die Edelkastanie." Sie empfiehlt Rezepte mit Kastanien-Extrakten, um damit Beschwerden wie Rheuma, Gicht, Husten, Durchfall, Leberschäden und Kopfschmerzen zu behandeln.

Ausblick

Speziell im Hinblick auf die zunehmende Klimaerwärmung drängt sich die wärmeliebende Edelkastanie geradezu auf, weil sie mit hohen Temperaturen gut zurechtkommt. Allerdings gilt dies nur für wintermilde Standorte mit sauren, kalkarmen Böden.
 

Quellen

(TR)