Die jungen Bäumchen im Wald sind der Schlüssel für zukünftige Wälder. Doch nur ein Bruchteil all dieser kleinen Bäumchen wird später den Wald bilden. Einen grossen Einfluss auf das Aufkommen der Waldverjüngung haben wildlebende Huftiere. Reh, Rothirsch und Gämse fressen unter anderem an kleinen Bäumen (Abb. 1).
Dem Abfressen von Endtrieben – nachfolgend als Verbiss bezeichnet – kommt dabei eine besondere Bedeutung zu (mehr dazu). Durch Verbiss wird das Aufwachsen der Bäumchen in höhere Höhenklassen verlangsamt oder sogar verhindert. Da die Tiere gewisse Baumarten bevorzugen, können sie längerfristig einen Einfluss auf die Baumartendiversität und die Schutzleistungen der Wälder haben.
Die Verbreitung und die Zahl der Rothirsche hat in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz gemäss der Eidgenössischen Jagdstatistik zugenommen. Von 1993 bis 2022 hat sich der Hirschbestand von 20'000 auf 40'000 verdoppelt. Im selben Zeitraum ist auch die Zahl der Rehe um 18% angestiegen und der Bestand der Gämse ist seit 1993 konstant. Damit ist eine Zunahme des Verbisses zu erwarten.
Die einzige langjährige und grossräumig einheitlich durchgeführte Verbissinventur in der Schweiz findet im Rahmen des Schweizerischen Landesfortinventars (LFI) statt.
Methoden der Verbisserhebungen im Landesforstinventar
Das LFI beobachtet den Schweizer Wald anhand von Stichproben, die seit dem LFI2 (1993-1995) in einem quadratischen Raster von 1.4 km angeordnet sind. Seit dem Beginn des LFI4 (2009) erfolgen die Aufnahmen nicht mehr periodisch und gebietsweise, sondern kontinuierlich jedes Jahr auf jeder 9. Probefläche. Dies ermöglicht die Untersuchung von jährlichen Veränderungen.
Bis zum LFI4 wurde die Methode zur Verbiss-Aufnahme der jungen Bäumchen jedes Jahr geändert. Diese Änderungen verkomplizieren die Auswertung der Ergebnisse. Am besten lassen sich das LFI2 (1993-1995) und die Inventuren LFI4 und LFI5 (also seit 2009) vergleichen. Alle drei Inventuren beurteilen den Verbiss an Bäumchen der Jungwaldklasse 10 bis 39.5 cm und 40 bis 129 cm Baumhöhe (Abb. 2).
Die Kriterien, mit denen bestimmt wurde, ob der Endtrieb des Vorjahres «verbissen» war, wurden im Laufe der Jahre aber geändert (Abb. 3). Beim LFI2 wollte man ein ganzes Jahr erfassen, d.h. auch Sommerverbisse miteinbeziehen, auf die der Baum noch im selben Jahr reagiert hatte. Aus diesem Grund mussten zwei Knospenschuppennarben unter der obersten Knospe und alles dazwischen intakt sein, damit der Baum als nicht verbissen galt (Abb. 3).

Abb. 3: Unterschied zwischen LFI2 und LFI4/LFI5 bezüglich der Beurteilung des Verbisses am Endtrieb an einem Bäumchen im Sommer. Der Trieb des aktuellen Jahres (hier weiss) wird in allen drei Inventuren nicht berücksichtigt. Im LFI4 und LFI5 ist entscheidend, ob der vorletzte Trieb abgefressen wurde (blauer Pfeil). Im LFI2 hingegen wurden die 2 letzten Knospenschnuppennarben (grüne Pfeile) und alles dazwischen beurteilt. Gemäss LFI2 wäre das Bäumchen also verbissen, gemäss LFI4 und LFI5 nicht verbissen. Zeichnung: Andreas Schwyzer (WSL)
Ab dem LFI4 wurde hingegen der Einfachheit halber angenommen, dass nur ein Trieb pro Jahr gebildet wird und ein Ersatztrieb immer im Jahr nach dem Verbiss wächst (Abb. 3). Mit der Methode des LFI2 wurden demzufolge mehr Bäume als «verbissen» bewertet, als mit derjenigen des LFI4. Das hat zur Folge, dass nur eine Verbisszunahme zwischen LFI2 und LFI4 sicher als Veränderung angesehen werden kann, nicht aber eine Verbissabnahme. Zwischen dem LFI4 und LFI5 (also seit 2009) wurde der Verbis einheitlich beurteilt und damit können Zu- und Abnahmen analysiert werden.
Analysen für 6 Gattungen in 5 Grossregionen
Um Unterschiede im Verbiss an verschiedenen Baumarten statistisch festzustellen, haben die Wissenschaflter logistische Modelle für verbissene vs. nicht verbissene Bäumchen gerechnet. Hierfür verwendeten sie alle in der jeweiligen Inventur erfassten Bäumchen zwischen 10 cm und 129 cm Höhe.
Die Schweiz teilten sie in fünf verschiedene Grossregionen auf (Abb. 4), sodass regionale Unterschiede sichtbar werden. Die Forscher haben dabei nur die sechs häufigsten Baum-Gattungen berücksichtigt, um belastbare Aussagen treffen zu können. Es sind dies: Abies, Picea, Acer, Fagus, Fraxinus und Sorbus (Tab.1). Sie untersuchten, ob es:
Unterschiede im Verbiss zwischen LFI2 (den Jahren 1993-1995) und dem Beginn des LFI4 (2009) gab.
in den Jahren 2009 bis 2022 einen Trend in der Häufigkeit des Verbisses je Grossregion gab.
Die wichtigsten Ergebnisse
1) Verbiss ist unterschiedlich häufig je nach Baumart
Über den gesamten Zeitraum (1993 – 2022) waren Sorbus-Arten (Vogelbeeren, Mehlbeeren, Elsbeeren, etc.) am häufigsten verbissen (Abb. 1 und 5), gefolgt von Ahorn (Gattung Acer), dann Esche (Gattung Fraxinus), dann Tanne (Gattung Abies) und dann Buche (Gattung Fagus). Die Fichte (Gattung Picea) war von den sechs häufigen Gattungen die am wenigsten verbissene. Buche und Fichte werden damit deutlich seltener von den wildlebenden Huftieren verbissen als die Weisstannen und insbesondere als Edellaubhölzer (Tab. 1).
Bei den Laubbäumen wurden die Bäumchen in der Jungwald-Klasse 40 – 129 cm Baumhöhe häufiger verbissen als diejenigen der Klasse 10 – 39 cm (Tab. 1). Der Anteil verbissener Bäumchen nahm mit der Höhe über Meer zu.
Die Entwicklung der Verbisshäufigkeit war je nach Gattung abhängig von der Grossregion. Es gibt diesbezüglich keine für die ganze Schweiz gültigen Trends.
2) Trends 1993 – 2009 (LFI2 vs. LFI4)
- In der Grossregion 5 (Wallis und Alpensüdseite) ist der Verbiss an Mehlbeere, Esche, Buche und Fichte bis 2009 deutlich angestiegen (Tab. 2). Da LFI2 den Verbiss gegenüber LFI4 überschätzt, dürfte in dieser Region der Verbiss an allen häufigen Baumarten zugenommen haben.
- Insbesondere der Verbiss an den Gattungen Ahorn, Esche und Mehlbeere war zu Zeiten des LFI2 in der Grossregion 5 noch deutlich tiefer als in den Regionen 1 und 3. Dies ist nun (2022) nicht mehr der Fall.
- Der Verbiss an Buche hat auch in der Region 1 – dem Jura – zugenommen (Tab. 2).
- Die Verbisshäufigkeit von Buche und besonders Fichte ist aber grossräumig weiterhin tief (Tab. 1).
- In der Grossregion 3 (Mittelland Mitte + Mittelland Ost) hat der Verbiss an der Weisstanne deutlich zugenommen (Tab. 2).
Tab. 2: Veränderungen in der Verbisshäufigkeit von 6 Pflanzengattungen in den fünf Grossregionen zwischen dem LFI2 (1993-1995) und dem Beginn des LFI4 (2009). Die roten Sterne zeigen eine Verbisszunahme. Ausgefüllte Sterne bedeuten signifikante Veränderungen, unausgefüllte Sterne sind Tendenzen. Beachte, dass infolge der unterschiedlichen Verbiss-Beurteilungen nur eine Zunahme statistisch belegt werden konnte.
3) Trends 2009 – 2022 (LFI 4 vs. LFI5)
- Der Verbiss an Esche nimmt seit 2009 in allen Regionen ab. Einzig in der Grossregion 5 ist der Verbiss auf dem Niveau vom 2009 stagniert (Tab. 3).
- Bei Ahorn, Buche und Mehlbeere hingegen nimmt der Verbiss teilweise zu (Tab. 3).
- Der Verbiss an der Buche hat in den Grossregionen 1 und 3 zugenommen. In der Region 1 (Jura) erstreckt sich die Zunahme also über beide untersuchten Zeitperioden (Tab. 2 und 3).
- Der Verbiss an Ahorn hat seit 2009 in der Grossregion 2 zugenommen.
- In der Grossregion 5 ist der Verbiss an Vogelbeeren und Mehlbeeren nun signifikant gestiegen.
Tab. 3: Veränderungen in der Verbisshäufigkeit von 6 Pflanzengattungen in den fünf Grossregionen zwischen 2009 (LFI4 Beginn) und 2022 (LFI5). Rote Pfeile zeigen einen Anstieg, blaue Pfeile eine Abnahme des Verbisses. Ausgefüllte Pfeile bedeuten signifikante Veränderungen, unausgefüllte Pfeile sind Tendenzen.
Die ausführlichen Ergebnisse finden Sie im Originalartikel (PDF).
Interpretation und Diskussion
Wichtige Arten von zukunftsfähigen Mischwäldern werden viel lieber von den wildlebenden Huftieren verbissen als Buchen und Fichten. Der selektive Verbiss an diesen Baumarten schmälert das waldbauliche Potenzial dieser Baumarten für die Zukunft.
Oft reduziert Verbiss das Höhenwachstum und damit die Konkurrenzkraft der betroffenen Arten gegenüber den häufigen Arten Fichte und Buche (vergl. Verbisseinflussinventur in Kirchberg) was die Entwicklung zu klimatisch angepassten artenreichen Mischwäldern erschwert. Hinzu kommt, dass Verbiss die Trockenheitsresistenz der Baumverjüngung reduziert und damit die Anpassungsfähigkeit der Wälder an die zukünftigen klimatischen Bedingungen belastet.
Laubbaumarten werden oft im Frühling nach dem Austrieb oder im Sommer verbissen (vergl. Wann sind die kritischen Phasen?). Unter guten Bedingungen reagieren diese Laubbaumarten noch im selben Jahr auf den Verbiss mit der Bildung neuer Triebe (vergl. Reaktion der Bäume nach Endtriebverbiss). Solche Bäumchen dürften im LFI2 als verbissen, im LFI4 und im LFI5 hingegen als unverbissen notiert worden sein. Die Trends seit 2009 zeigen nun, dass der Verbiss an Esche eher abnimmt, derjenige an Ahorn z.T. eher zunimmt. Die Frage stellt sich deshalb, ob die wildlebenden Huftiere infolge der Eschentriebwelke nun vermehrt Ahorne statt Eschen verbeissen. Die Auswertungen der flächigen Verjüngungsinventur im Kanton Freiburg (IFF) zeigen ebenfalls vermehrten Verbiss bei Ahorn im Mittelland und weniger bei Esche (Bericht dazu als PDF).
Der Verbiss in der Grossregion 5 ist von 1993/95 bis 2009 bei praktisch allen Gattungen gestiegen. Der Rothirschbestand hat in der gleichen Periode sowohl im Kanton Wallis wie auch im Tessin von rund 3000 auf 5000 Tiere zugenommen, während der Rehbestand im Tessin in der gleichen Zeitspanne gemäss der Eidgenössischen Jagdstatistik eher gesunken ist. Deshalb könnte die Ausbreitung des Rothirsches in der südlichen Schweiz der Hauptgrund für die dortige Verbisszunahme sein.
Generell ist im LFI5 der Verbiss an den Gattungen Esche, Mehlbeere und Tanne in den westlichen Regionen geringer als in den östlichen Regionen bzw. im Wallis und der Alpensüdseite. Ob dafür die Ausbreitung des Rothirsches bzw. der Grossraubtiere verantwortlich ist und/oder dies eher auf Veränderungen in den Huftier-Managementstrategien der verschiedenen Kantone zurückzuführen ist, ist Gegenstand weiterer Forschung (z.B. IMM Projekt).














