Der Verbiss durch wildlebende Huftiere wie Reh, Gämse und Rothirsch ist in zweierlei Hinsicht selektiv. Erstens werden einzelne Baumarten bevorzugt gefressen und zweitens werden die bestwüchsigen, die vitalsten Individuen einer Baumart an ihrem Endtrieb verbissen. Dies kann zu Verschiebungen im Zuwachsverhältnis zwischen den Baumarten führen, was längerfristig die Baumartenzusammensetzung eines Waldbestandes beeinflusst.

In systematisch angeordneten Probeflächen im Forstrevier Kirchberg (Kanton St.Gallen) haben Wissenschaftlerinnen der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL im Herbst 2022 eine Verbisseinfluss-Inventur durchgeführt. Sie inventarisierten auf den 133 Stichprobeflächen jeweils die dem Flächenzentrum nächstgelegenen zwei Bäumchen je Baumart und Höhenklasse (sogenannte k-Baum-Methode).

Von jedem Bäumchen notierten sie die Art und massen die Baumlänge und die Höhenzuwächse in den beiden Jahren 2021 und 2022. Zudem beurteilten sie die Verbissstärke während der Vegetationszeit 2022 (hier als Sommerverbiss bezeichnet) und im Winter 2021/22 am verholzten Endtrieb des Jahres 2021 (Winterverbiss). Weiter zählten sie, wie häufig Schäden entlang der gesamten Stammachse vorkamen. Die Aufnahme fand absichtlich im Herbst statt, damit die Forscherinnen allfällige Johannistriebe (zweites Austreiben von Trieben im Juni/Juli) bei den Laubbäumen mitmessen und die Reaktionsfähigkeit nach Verbiss beurteilen konnten.

Endtrieb-Verbissstärke

Die "Verbissstärke" – auch "Stärke des Verbisses" oder "Schädigungsgrad" genannt – gibt an, ob nur die Endknospe und ein kleiner Teil des letzten Höhenzuwachses oder ein grosser Teil (über die Hälfte) des Höhenzuwachses abgeäst werden. mehr dazu

Standortsgerechte Baumarten in der Verjüngung vorhanden

Insgesamt wurden in den untermontanen Waldhirsen-Buchenwäldern, Bingelkraut-Buchenwäldern und submontanen Seggen-Buchenwäldern bei Kirchberg 21 Baumarten gefunden. Bergahorn, Esche und Tanne zählten zu den häufigsten Arten; sie wurden sogar in mehr Probeflächen gefunden als die Buche (Tab. 1 weiter unten). Allerdings kam die Buche in allen Höhenklassen häufig vor, während Bergahorn, Esche und Tanne in den grösseren Höhenklassen deutlich seltener waren. Eichen, Eiben, Feldahorn und Spitzahorn fehlten komplett in den grösseren Höhenklassen.

Das Bestockungsziel von 3’000 Bäumchen pro Hektar war in 99% aller Probeflächen mit einer mittleren Gesamtdichte von rund 10'000 Bäumchen/ha erfüllt. Das ist Anbetracht der Tatsache, dass von den 133 Probeflächen nur gerade 5 im Jungwuchs und Dickungsstadium waren und die mittlere Beschattung dieser Buchenwälder ungefähr 80% betrug, doch ein grosser Anteil.

Selektiver Winterverbiss

Von den häufigsten Baumarten waren 31% der Kirschen verbissen, hingegen 16% der Tannen, 12% der Eschen und 11% der Bergahorne und nur 8% der Buche, aber keine Fichten (Tab. 1). Dies scheint auf den ersten Blick kein hoher Verbissanteil zu sein. Allerdings sieht es bei genauerer Betrachtung anders aus, weil nicht der blosse Verbissanteil entscheidend ist, sondern vor allem die Auswirkungen des Verbisses – und diese können auch schon bei relativ niedrigem Verbiss beträchtlich sein.

Besonders häufig war im Forstrevier Kirchberg der Verbiss bei den selteneren Baumarten, von denen man annimmt, dass sie besser mit den veränderten klimatischen Bedingungen zurechtkommen (Tab. 1, Abb. 2). Bemerkenswert ist, dass der Nussbaum zu den am häufigsten und auch am stärksten verbissenen Arten gehörte. Diese Baumart zählt sonst eher zu den «verbissunempfindlichen» Arten.

Tab. 1 - Anteil der Probeflächen mit einem Baum der entsprechenden Baumart in den Höhenklassen 1 bis 4, also 10 cm bis 130 cm Baumhöhe (bestockte Fläche). Zudem ist der Anteil der Flächen mit im Sommer 2022 oder im Winter 2021/2022 verbissenem Baum an der mit dieser Art bestocken Fläche (Jahresverbiss) aufgeführt. Fett gedruckt sind Arten mit mehr als 100 vermessenen Bäumchen.

Winterverbiss war häufiger als Sommerverbiss, auch bei allen Laubbaumarten (Abb. 2). Bei einigen Arten war leichter Winterverbiss häufiger als starker Winterverbiss, darunter Eibe, Buche, Bergahorn und Kirsche. Im Gegensatz dazu war starker Winterverbiss häufiger bei Tanne, Esche, Ulme, Vogelbeeren, Eichen, Nussbaum, Feld- und Spitzahorn. Starker Verbiss hat einen höheren Einfluss auf das Aufwachsen der Bäumchen, da weniger Knospen vorhanden sind und die Bäumchen dadurch meistens weniger schnell reagieren. Rund 10-15% der Ulmen, Mehlbeeren und Eichen waren zudem in beiden Jahreszeiten verbissen.

Winterverbiss führte zu Zuwachsreduktion

Bei der Datenanalyse stellen die Forscherinnen fest, dass das Reststück des Endtriebes 2021 nach leichtem Verbiss bei allen Baumarten länger war als der Endtrieb 2021 der unverbissenen Bäumchen. Dies deutet darauf hin, dass hauptsächlich diejenigen Bäumchen verbissen wurden, die das grösste Höhenwachstum aufwiesen. Der selektive Verbiss der bestwachsenden Bäumchen erhöht die Durchwuchszeit, das heisst die Zeitdauer, welche die Bäumchen brauchen, um von 10 bis 130 cm zu wachsen.

Von den häufigsten Baumarten wies die Kirsche das durchschnittlich grösste jährliche Höhenwachstum auf, gefolgt von Esche, Tanne und Buche. Das kleinste Höhenwachstum hatten Bergahorne und Fichten. Ab einer Höhe von 130 cm wurden die Bäumchen praktisch nicht mehr verbissen.

Wird das Wachstum je Probefläche und Höhenklasse im Verhältnis zur Buche verglichen, so war das Reststück nach leichtem Endtriebverbiss von Tanne, Esche, Bergahorn und Kirsche grösser als der Zuwachs der unverbissenen Buchen. Das bedeutet, dass diese Arten besser wachsen würden als die Buche, wenn sie nicht verbissen würden. Sie verlieren jedoch einen Teil dieses grösseren Höhenzuwachses. Dies, weil der neue Trieb, der als Reaktion auf den Verbiss gebildet wird, in den allermeisten Fällen weiter unten aus dem Reststück herauswächst und nicht an der Spitze des verbissenen Triebes (Abb. 3). Somit verschiebt Verbiss das Zuwachsverhältnis zu Gunsten von Buche.

Starker Winterverbiss verringerte das Höhenwachstum bei allen häufigen Arten signifikant, ausser bei der Fichte. Damit wird das Zuwachspotential dieser Arten durch Verbiss erheblich geschmälert.

Frühere Schäden haben jahrelange Auswirkungen

Die meisten Schäden entlang der Stammachse hatten Bergahorne, gefolgt von Eschen und Kirschen. Tannen hatten etwas weniger Schäden und Buchen nochmals signifikant weniger. Fichten hatten mit Abstand am wenigsten Schäden entlang der Stammachse.

Je grösser die Baumhöhe war, desto mehr Schäden haben die Forscherinnen gefunden. Bergahorne, Kirsche und Eschen grösser als 50 cm hatten fast ausnahmslos mehrere Schäden. Es gab aber auch viele noch sehr kleine Bergahorne und Eschen, die bereits mehrmalige Schäden entlang der Stammachse aufwiesen. Hingegen waren viele grössere Buchen und Fichten ohne Beschädigung.

Frühere Schäden entlang der Stammachse verringerten den Höhenzuwachs in beiden untersuchten Jahren signifikant. Je öfter also ein Bäumchen verbissen und/oder beschädigt wurde in den letzten Jahren, desto schlechter ist es gewachsen, auch wenn es in den vergangenen Jahren nicht verbissen war (Abb. 3). Verbiss hat also eine mehrjährige Auswirkung auf das Höhenwachstum der Bäumchen in den Kirchberger Wäldern.

Verzögerte Reaktion nach Verbiss

Nach starkem Verbiss im Winter 2021/2022 hatten 40% der Tannen, 28% der Kirschen, 21% der Buchen, 18% der Eschen und 16% der Bergahorne am Ende der nächsten Vegetationsperiode (Herbst 2022) noch keinen neuen Endtrieb. D.h. die Reaktion nach Verbiss war um mindestens ein Jahr verzögert (Abb. 4, rechts).

Wie oben erläutert, reagierten mehr Tännchen nach leichtem als nach starkem Winterverbiss. Alle im Winter leicht verbissenen Eschen und Kirschen bildeten 2022 einen neuen Trieb. Hingegen reagierten deutlich weniger Buchen und Bergahorne nach leichtem als nach starkem Winterverbiss (36% bzw. 23% ohne Endtrieb nach leichtem Verbiss). Auch nach leichtem Sommerverbiss trieben die allermeisten Buchen (90%) nicht neu aus. Beim Bergahorn konnten immerhin 40% bereits einen neuen Endtrieb bilden, 50% der Kirschen und 67% der Eschen.

Drei von vier Tannen, welche im Jahre 2021 keinen Endtrieb infolge eines früheren Verbisses oder eines sonstigen Schadens hatten, wiesen bis zum Ende der Vegetationsperiode 2022 noch immer keinen neuen Endtrieb auf. Dies bedeutet, dass sie eine um mindestens zwei Jahre verzögerte Reaktion haben werden. Die Kategorie «anderer Schaden & kein ET» in Abb. 2 sind bei der Tanne alles Bäumchen, die keinen neuen Endtrieb hatten nach früherem Verbiss oder nach einem anderen Schaden.

Um die Auswirkungen des Verbisses abschätzen zu können, ist es daher wichtig, die Verzögerungen bei der Reaktion nach dem Verbiss zu bewerten. Wird der Flächenanteil mit verbissenen Tannen und derjenige mit Tannen ohne Endtrieb addiert, so steht auf jeder 4. Probefläche eine Tanne, die mindestens ein (Winterverbiss mit Reaktion im darauffolgenden Jahr) bis drei Zuwächse (früherer Verbiss ohne Reaktion) infolge des Verbisses verloren hat.

Weiter zu berücksichtigen ist, dass auf den restlichen 61% der Flächen die Tannen signifikant schlechter wachsen infolge von früherem Verbiss. Daraus wird klar, dass der Verbiss in diesen Wäldern einen erheblichen Einfluss auf das Aufwachsen der Tannenverjüngung hat. Ähnliches trifft auch auf Bergahorn und Esche zu. Bei diesen beiden Arten ist die Wirkung des Verbisses weniger akzentuiert, da eine zeitliche Verzögerung der Reaktion seltener festgestellt wurde als bei der Tanne.

Verbiss mindert Anpassungsfähigkeit

Der Verbiss durch wildlebende Huftiere führt in den Buchenwäldern bei Kirchberg zu reduziertem Höhenwachstum. Dies ist nicht nur im Jahr des Verbisses der Fall, sondern zieht sich über mehrere Jahre hinweg. Verbiss begünstigt die Buche gegenüber anderen Arten, weil diese öfter gefressen werden als die Buche. Besonders häufig war der Verbiss bei Baumarten, die mit den künftig wohl wärmeren und trockeneren Bedingungen besser zurechtkommen dürften. Der Verbiss kann also die Entwicklung dieser Buchenwälder zu klimatisch angepassten Mischwäldern negativ beeinflussen.

Ausführlicher Bericht
Angst, J. K.; Kupferschmid, A. D. (2023): Verbisseinfluss - Monitoring in den Buchenwäldern von Kirchberg SG: wissenschaftlicher Bericht zum Verbisseinfluss. Eidg. Forschungsanstalt WSL. doi.org/10.55419/wsl:33149

Wissenschaftlicher Originalartikel
Angst, J. K.; Kupferschmid, A. D. (2023): Assessing browsing impact in beech forests: the importance of tree responses after browsing. Diversity, 15(2), 262 (22 pp.). https://doi.org/10.3390/d15020262

 

(TR)