Als charakteristische Bergbewohner besiedeln Gämsen auch im bayerischen Alpenraum eine Vielzahl von Lebensräumen – von Felsregionen und alpinen Matten bis zum Bergwald. Die bayerischen Alpen weisen dabei überwiegend eine hohe Naturnähe auf. Dennoch sind auch die Wildtiere der alpinen Regionen, wie die Gams, verschiedensten anthropogenen Einflüssen ausgesetzt: Der Klimawandel, die zunehmende touristische Nutzung des Alpenraums sowie die Land- und Forstwirtschaft oder die Jagd beeinflussen ihre Lebensräume. Über die Auswirkungen dieser Faktoren auf die Populationsgenetik der bayerischen Gamsvorkommen lagen bisher kaum Daten vor.
Eine fundierte Datengrundlage zum Zustand der Populationen ist für das Management und den Schutz von Arten von entscheidender Bedeutung. Die LWF führt seit mehreren Jahren verschiedene Projekte zur Gams im bayerischen Alpenraum durch. Im Fokus standen bisher zwei Untersuchungsgebiete im Chiemgau und im Karwendel, in denen die LWF beispielsweise die Populationsgrößen mittels genetischer Methoden aus Losungsfunden ermittelte oder das Raum-Zeit-Verhalten der Gämsen mit Telemetrie untersuchte.
Genetische Analysen von bayerischen Gämsen
Für die genetischen Analysen entnahmen Jagdausübende Gewebeproben von erlegten Tieren – vereinzelt auch von Fallwild – aus dem gesamten bayerischen Alpenraum und angrenzenden Gebieten in Österreich. Für jede Probe wurde die genaue Verortung erhoben, da nur dies eine Auswertung räumlicher Populationsstrukturen und eine Verschneidung mit Landschaftsdaten ermöglicht. Außerdem lieferten die Erleger mit Angaben zu Alter, Geschlecht, Gewicht und zur Länge des Jährlingsschlauchs – des oberen Teils des Horns der Gämsen, der nach dem ersten Lebensjahr unverändert bleibt – weitere wichtige Informationen zur Kondition und Konstitution der Tiere.
Aus den Gewebeproben wurde im Labor zunächst DNA extrahiert. Für die genetische Untersuchung wurden sogenannte Mikrosatelliten-Marker verwendet, also kurze, besonders variable DNA-Abschnitte. Aus 16 dieser Mikrosatelliten-Marker entstand für jedes Individuum ein eigenes genetisches Profil. Insgesamt wurden für 2.873 Gämsen solche genetischen Profile erhoben. Mit dieser umfangreichen Stichprobengröße lassen sich fundierte Aussagen über die Populationsstruktur der Gams, aber auch zur genetischen Diversität und zum genetischen Austausch zwischen verschiedenen Regionen im bayerischen Alpenraum treffen.
Analyse von genetischen Populationsstrukturen
Im ersten Auswertungsschritt stand die Frage der Populationsstruktur im Mittelpunkt: Gibt es so etwas wie “DIE bayerische Gams”? oder lassen sich die bayerischen Gamsvorkommen in mehrere Populationen einteilen, die beim Monitoring und Management gezielt berücksichtigt werden sollten?
In der Regel entstehen abgegrenzte Populationen dann, wenn der genetische Austausch (Genfluss) zwischen Individuen verringert ist. Der Genfluss wird einerseits durch die Landschaft, andererseits durch die Ausbreitungsfähigkeit der Arten beeinflusst. Für Unterbrechungen des Genflusses sind häufig Barrieren zwischen Habitaten ursächlich – beispielsweise Flüsse oder Täler, aber auch anthropogene Strukturen wie Straßen oder Siedlungen. Je länger die Trennung besteht und je stärker diese ausgeprägt ist, desto stärker unterscheiden sich die Populationen genetisch voneinander. Bestehen keine Barrieren zwischen geeigneten Habitaten, sind genetische Unterschiede zwischen Individuen meist auf die geographische Distanz zurückzuführen – denn die Entfernung zwischen zwei Individuen bestimmt, wie wahrscheinlich diese als Paarungspartner in Frage kommen.
Mit Hilfe der genetischen Informationen lässt sich untersuchen, wie ähnlich sich die erfassten Individuen sind: Je näher die Tiere miteinander verwandt sind, desto mehr Marker stimmen in ihren Ausprägungen überein. Hieraus können sowohl nahe Verwandtschaftsverhältnisse als auch großräumige Populationsstrukturen ermittelt werden. Ob und wie sich die Gamsvorkommen in Bayern in mehrere Populationen oder Untereinheiten einteilen lassen, wurde anhand sogenannter Zuweisungstests untersucht. Diese Tests schätzen mittels Bayesscher Statistik die wahrscheinlichste Anzahl an Gruppen (sogenannte “Cluster”), in die sich die Individuen auf Basis der Gendaten aufgliedern lassen. Dabei werden möglichst homogene Gruppen mit genetisch ähnlichen Individuen gebildet. Für die bayerischen Gamsvorkommen wurden zwei für die Populationsabgrenzung gängige Programme (STRUCTURE und Geneland) verwendet, die sich hinsichtlich ihres methodischen Ansatzes unterscheiden. Die gefundenen Cluster wurden anhand der Verortung der einzelnen Proben auf eine Karte projiziert, um die räumliche Verteilung der ermittelten Gruppen darzustellen. Für diese Gruppen wurde zusätzlich die Differenzierung berechnet, also die Stärke der genetischen Unterschiede zwischen den verschiedenen genetischen Gruppen.
Die Gams in Bayern – über weite Strecken gut vernetzt
Die Analyse der Populationsstruktur ergab eine deutliche Trennung der Gamsvorkommen westlich und östlich des Inntals (Abbildung 4) – offensichtlich stellt das Inntal eine für die Gams nur schwer überwindbare Barriere dar, wofür mehrere Faktoren maßgeblich sein können: der breite Inn, die überwiegend gezäunte Autobahn 93, die Bahntrasse und die Siedlungsbereiche im Inntal. Die beiden ermittelten Gamspopulationen sind zwar klar genetisch unterscheidbar, aber noch nicht zu stark differenziert – sie sind sich also genetisch immer noch ähnlich. Bemerkenswert ist, dass Individuen, die genetisch eindeutig der Population westlich des Inntals zuzuordnen waren, auch östlich des Inns erlegt wurden. Dies deutet darauf hin, dass vereinzelt abwandernde Individuen das Inntal durchqueren oder es zumindest in angrenzenden österreichischen Gebieten zur Vermischung der Vorkommen kommt. Innerhalb der zwei großen Cluster waren die genetischen Strukturen weniger ausgeprägt und die Populationsstruktur war eher durch die geographische Distanz bestimmt und nicht durch Barrieren.
Die Beobachtung, dass größere Talräume eine deutliche, jedoch nicht unüberwindbare Barriere für die Gämsen darstellen, deckt sich auch mit den Ergebnissen einer aktuellen Studie über die postglaziale Verbreitung der Gams im gesamten Alpenraum. Kleinere Talräume, Flüsse oder Straßen stellen für Gämsen somit nur geringe Ausbreitungshindernisse im Sinne populationsgenetischer Strukturen dar. Auch vertiefende landschaftsgenetische Analysen, die den populationsgenetischen Daten Landschaftsdaten gegenüberstellen, konnten für weite Teile des bayerischen Alpenraums eine gute Konnektivität, also gute Voraussetzungen für genetischen Austausch, zeigen. Für die bayerischen Gamsvorkommen ein gutes Zeichen: regelmäßiger genetischer Austausch ist ein wichtiger Faktor für den Erhalt der genetischen Vielfalt.

Abb. 4: Genetische Populationsstruktur der Gämsen im bayerischen Alpenraum. In der Darstellung sind die beprobten Naturräume/Naturraumeinheiten den jeweiligen genetischen Populationen zugeordnet. Die Gamsvorkommen lassen sich im Wesentlichen in eine Population westlich und eine östlich des Inns – hier als blaue Linie dargestellt - unterteilen. Innerhalb dieser Populationen konnten Subpopulationen abgegrenzt werden, die jedoch weniger stark voneinander abgetrennt waren.
Genetische Vielfalt der bayerischen Gamsvorkommen
Eine zentrale Fragestellung des Projekts war der genetische Zustand der bayerischen Gamspopulationen: Wie hoch ist die genetische Vielfalt der Gämsen in Bayern, gibt es Unterschiede zwischen den Regionen? Zur Beantwortung dieser Frage wurden für die abgegrenzten Subpopulationen verschiedene Parameter berechnet, die die genetische Vielfalt abbilden. Einer dieser Parameter ist der Heterozygotiegrad: dieser kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen und gibt den Anteil an Individuen an, die für ein Merkmal mischerbig sind. Mischerbige Individuen haben an einem untersuchten Genort zwei unterschiedliche Ausprägungen eines Merkmals, sie haben also von ihren Elternteilen unterschiedliche Varianten geerbt. Gemittelt über eine Population oder Subpopulation gibt der Heterozygotiegrad Auskunft über die genetische Diversität dieser Einheiten. Für die Gämsen im bayerischen Alpenraum lag die Heterozygotie im Vergleich mit anderen Studien aus dem Alpenraum im mittleren bis hohen Bereich, zwischen den einzelnen Subpopulationen gab es aber geringfügige Unterschiede (Abbildung 5). Detaillierte Analysen zum Einfluss der Landschaft auf die genetische Diversität zeigten, dass die kleinräumige genetische Vielfalt zum Rand der Gamsvorkommen und mit abnehmenden Anteilen an für die Gams geeigneten Höhenlagen zurückgeht. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass in Randlagen sowohl die Populationsdichte als auch die Möglichkeiten für genetischen Austausch geringer sind. Insgesamt wurde für die bayerischen Gamsvorkommen aber ein guter genetischer Zustand mit hoher genetischer Diversität und guter Konnektivität zwischen verschiedenen Gebirgsregionen nachgewiesen.
Zusammenfassung
Die Stabstelle Wildbiologie und Wildtiermanagement der LWF untersuchte in einem umfangreichen Projekt die bayerischen Gamsvorkommen mit populationsgenetischen Methoden. Ziel der Studie war es, die Populationsstruktur, genetische Diversität und Vernetzung von Gamsvorkommen im bayerischen Alpenraum detailliert zu beleuchten und so eine umfassende und objektive Datenbasis zu schaffen. Hierzu wurden 2.873 Proben ausgewertet. Bei den populationsgenetischen Untersuchungen zeigte sich, dass die bayerischen Gamsvorkommen eine hohe genetische Vielfalt aufweisen, überwiegend gut vernetzt sind und in genetischem Austausch stehen. Für den Genfluss stellt lediglich das Inntal eine relevante Barriere dar, die die bayerischen Vorkommen in eine östliche und eine westliche Population teilt. Diese zwei Populationen lassen sich noch weiter in Subpopulationen untergliedern, die aber untereinander in engem Austausch stehen. Das Projekt lieferte somit wichtige Erkenntnisse über die Gams, eines der Symboltiere der bayerischen Alpen, und stellt Grundlagen für ein weiteres Monitoring zur Verfügung.
Das Projekt “Erhebung der räumlichen Differenzierung, der Konnektivität und des genetischen Zustands der lokalen Gamsvorkommen im Bayerischen Alpenraum (C54)” (Laufzeit: 2021–2024) wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Tourismus finanziert.








