Warum wurde das Forschungsprojekt zu den Wildtieren im Bergwald ins Leben gerufen?

Bergwälder erfüllen vielfältige Aufgaben. Sie sind Lebensraum für diverse Pflanzen- und Tierarten, bieten Möglichkeiten der Erholung und Sportausübung und sind essentiell für einige Wirtschaftszweige, wie z. B. die Forst- oder Holzwirtschaft. Gleichzeitig schützen Bergwälder die Menschen vor Naturgefahren, wie Lawinen, und die Waldböden vor Erosion und Aushagerung. Zur langfristigen Sicherstellung der Bergwaldfunktionen ist ein angepasstes Wildtiermanagement erforderlich, welches die Lebensansprüche der Wildtiere, die Ansprüche der Gesellschaft und die Leistungsfähigkeit dieses wertvollen Ökosystems berücksichtigt. Im besonderen Fokus stehen hierbei die drei Schalenwildarten Gams-, Rot- und Rehwild, die alle gleichermaßen den Bergwald und die daran angrenzenden Bereiche als Lebensraum nutzen.

Ein zielführendes Management von Gams-, Rot- und Rehwild im Bergwald baut v.a. auf wildbiologischen Erkenntnissen auf. Dabei gilt es unter anderem zu wissen, wie viele Individuen in einem Gebiet vorkommen, welche Lebensräume die Wildtiere bevorzugt nutzen oder wie diese Biotope durch den Menschen beeinflusst werden. Aus diesem Grund hat das Bayerische Forstministerium die Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) beauftragt, diese wichtigen Fragestellungen im Rahmen des Forschungsprojekts "Integrales Schalenwildmanagement im Bergwald" zu untersuchen.

Das Forschungsvorhaben wird in zwei Studiengebieten, im Bereich des Vorkarwendels und des Geigelsteins bzw. der Kampenwand, umgesetzt. Dabei kommen neben ganz traditionellen Methoden, wie der direkten Zählung, auch moderne und neue Untersuchungsverfahren aus dem Bereich der Wildtiergenetik, der Satellitentelemetrie oder des Monitorings mittels Wildtierkameras (Abb. 1 und 2) zum Einsatz. Innovativ ist vor allem das gewählte Vorgehen, alle drei für den Bergwald relevanten Schalenwildarten gleichzeitig und mit denselben Methoden zu erfassen. Auf diese Weise ist es möglich, Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Schalenwildarten und ihrem Lebensraum aufzuzeigen und zu analysieren.

Gams-, Rot- und Rehwild leben zwar im gleichen Gebiet, nutzen aber andere Lebensräume

Zuverlässige und belastbare Informationen über Wildtiere in der freien Landschaft zu erheben ist keine einfache Aufgabe. Maßgebliche Herausforderungen bestehen vor allem bei der Schätzung der tatsächlich in einem Gebiet vorhandenen Bestände und deren Struktur. In dieser Studie wurden zur Abschätzung von Bestandsdichten, Geschlechterverhältnis und der räumlichen Verteilung der Wildtiere in beiden Projektgebieten frische Kotproben gesammelt und anschließend genetisch untersucht. Dabei konnte jede Probe einem bestimmten Individuum, inklusive dessen Geschlecht, zugeordnet werden. Dies ermöglicht statistische Auswertungen um die Bestände zu berechnen und zu ermitteln, in welchen Bereichen die geringsten und in welchen die höchsten Dichten vorkommen.

Die ersten Ergebnisse zeigen eine heterogene Dichteverteilung innerhalb der beprobten Projektgebiete. Im Frühsommer treten beispielsweise Gämsen im Projektgebiet "Karwendel" oberhalb der Waldgrenze in deutlich höheren Dichten auf als in den mittleren Höhenlagen; in den Tieflagen sind sie weitestgehend abwesend (Abb. 3). Dagegen konzentrieren sich beim Rotwild zu dieser Zeit die Bereiche mit den höchsten Dichten in niedrigeren Höhenlagen als beim Gamswild. Es gibt somit nur wenige Bereiche, in welchen beide Schalenwildarten gleichzeitig in hohen Dichten vorkommen. Insgesamt befinden sich nach den Berechnungen mindestens 650 Gämsen und mindestens 240 Stück Rotwild in dem ca. 5.500 ha großen Projektgebiet. Beim Rehwild reichten die gefundenen Kotproben nicht aus, um belastbare Aussagen treffen zu können.

Für den Frühsommer im Projektgebiet "Karwendel" ergab die Untersuchung der Lebensraumnutzung der drei Schalenwildarten  auch deutliche Unterschiede hinsichtlich der bevorzugten Lebensraumeigenschaften. Dabei zeigte sich, dass Gämsen steiles und schroffes Gelände bevorzugen, während die Rothirsche eher ebeneres Gelände mit sanften Steigungen im Wald oder in Waldnähe aufsuchen. Das Reh präferierte Lebensräume mit hoher Deckung in niedrigeren Lagen. Im Vergleich zur Gams war die Lebensraumeignung bei Rotwild und Reh stärker durch die Verfügbarkeit von Vegetation, wie einem hohen Verjüngungsanteil der Waldvegetation, geprägt. In Hinblick auf menschliche Störungen war auffällig, dass Gämsen den geringsten Abstand zu Wanderwegen von allen drei Schalenwildarten einhielten, während Rothirsche Wanderwege am stärksten mieden. Diese Ergebnisse liefern unter anderem wichtige Erkenntnisse zum Einfluss der menschlichen Aktivitäten auf die Lebensweise der Schalenwildarten und stellen damit wichtige Bausteine für ein integrales Wildtiermanagement dar.

Telemetrie bringt detaillierte Erkenntnisse zu den Bewegungsmustern der Gams

Auf Grund der zunehmenden Präsenz von Menschen in den Bergregionen durch touristische, sportliche und jagdliche Aktivitäten sind Gämsen einer Vielzahl von direkten und indirekten Einflüssen ausgesetzt und damit die Lebensraumeignung potentiell eingeschränkt. Diese komplexen Zusammenhänge und das damit in Zusammenhang stehende Management der Gams werden zunehmend öffentlich diskutiert. Das detaillierte Raum-Zeit-Verhalten des Gamswildes im Bayerischen Alpenraum wurde bislang jedoch nur wenig untersucht und so gibt es derzeit kaum belastbare empirische Daten, um diese Diskussionen wissenschaftlich zu untermauern. Aufgrund des gesteigerten Interesses an der charakteristischen Wildtierart des Bayerischen Alpenraums, der Gams, wurde das ursprüngliche Projekt um den Zusatzbaustein "Gamstelemetrie in Bayern" erweitert.

Die angewandte Satellitentelemetrie - mit einer hohen räumlichen und zeitlichen Auflösung der Bewegungsdaten - eröffnet einen detaillierten Einblick in die Lebensweise und das Verhalten der Gämsen. Im Vergleich zu den anderen Methoden ermöglicht die Satellitentelemetrie eine Fülle von interessanten Positionsdaten dieser scheuen und wenig sichtbaren Art. Diese Daten werden mit anderen Daten, welche zur gleichen Zeit am gleichen Ort gemessen wurden, wie z.B. die Nahrungsverfügbarkeit, die Intensität menschlicher Einflüsse oder die Witterung, verschnitten und ausgewertet.

Erste Beobachtungen besenderter Gämsen (Abb. 4) zeigen, dass die saisonalen Bewegungen eine sehr hohe Variabilität aufweisen. Beispielhaft sind in Abbildung 5 die Sommer- und Winterstreifgebiete eines Gamsbocks und zweier Gamsgeißen dargestellt. Während der Bock ein sehr kleines Sommerstreifgebiet hat und im Winter in ein ca. 6 km entferntes, separates Winterstreifgebiet abwandert, bewohnen die beiden Gamsgeißen weniger differenzierte saisonale Einstände. Durch diese Variabilität ihrer Bewegungsmuster und ihrer Raumnutzung kann sich das Gamswild sehr gut an saisonale Veränderungen in seinem Lebensraum anpassen. Der Zusatzbaustein "Gamstelemetrie in Bayern" wird durch Mittel aus der Jagdabgabe gefördert.

Ausblick zu den weiteren Forschungsaktivitäten bezüglich der Wildtiere im Bergwald

Die verschiedenen wildbiologischen Forschungsarbeiten tragen dazu bei, umfassende und wissenschaftlich belastbare Erkenntnisse über Wildtiere und ihre Lebensräume in der vom Menschen intensiv genutzten Kulturlandschaft zu erarbeiten. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie der Zustand unserer Wildtierbestände beschaffen ist und in welchen Wechselbeziehungen die Wildtiere zu den unterschiedlichen menschlichen Nutzungsansprüchen stehen.

Im nächsten Schritt soll die Lebensraumnutzung der drei Schalenwildarten der menschlichen Landnutzung gegenüberstellt werden. Dazu werden die verschiedenen Nutzungsarten durch Land- und Forstwirtschaft, Jagd und Tourismus in den Projektgebieten erfasst. Durch den Vergleich der Raumnutzung von Mensch und Wildtier eröffnen sich Möglichkeiten, Nutzungskonflikte zu identifizieren, sachlich zu erklären und Lösungsstrategien abzuleiten. Diese und weitere wildbiologische Ergebnisse sind ein elementarer Baustein und das wissenschaftliche Fundament für ein von allen Seiten getragenes integrales Wildtiermanagement. Neue Ergebnisse werden Anfang bis Mitte des Jahres 2021 erwartet.