Seit dem Verschwinden des Braunbären aus den Wäldern Mitteleuropas ist der Edel- oder Rothirsch hierzulande das grösste Säugetier. Dieses beeindruckend mächtige Tier trägt ein spektakuläres Geweih zur Schau und passt sich gut an die Höhenverhältnisse an. Nachdem der Rothirsch um 1850 in der Schweiz fast ausgerottet war, bewohnt er heute wieder einen grossen Teil der Bergwälder.

Aussehen

Ein ausgewachsener männlicher Hirsch (Stier) hat eine Schulterhöhe von ungefähr 1,20 bis 1,50 m und wiegt zwischen 170 und 220 Kilo. Er ist also etwa acht Mal schwerer als ein Reh. Die Hirschkuh ist deutlich kleiner: 1 bis 1,20 m gross und 90 bis 130 Kilo schwer. Wenn der Hirsch sein Geweih abgeworfen hat, erkennt man ihn an seinem massiven, gedrungenen Körper, seiner mächtigen Brust und einem kräftigen Hals.

Der Hirsch gehört zur Ordnung der Paarhufer (Unterordnung Wiederkäuer) und der Familie der Cerviden, hat eine horizontale Wirbelsäule und trägt ein grosses Geweih. Er wechselt zweimal im Jahr das Haar. Das kurze, rötliche Fell, das er im Sommer trägt, wird im Herbst dicker und verfärbt sich graubraun. Die Oberschenkel sind gelblich, der Schwanz wird etwa 20 cm lang, und dem Rückgrat entlang ist ein schwarzer Streifen sichtbar.

Während der Brunft trägt der Stier eine lange und dichte Mähne. Beide Geschlechter haben über den Augen eine Drüse, die so genannte Tränengrube. Mit dem Sekret dieser Drüsemarkieren sie ihr Territorium. Weitere Geruchsdrüsen befinden sich an der Aussenseite der Hinterbeine und unter dem Fersenbein, die durch verdichtete Haarbürsten auffallen und vom Jäger als "Kastanien" bezeichnet werden. Das männliche Tier verfügt zusätzlich über Wedeldrüsen, die sich unter dem Schwanz befinden. Diese schwellen während der Brunft an und sondern eine Flüssigkeit ab, die stark nach Moschus riecht.

Das Geweih

Das Geweih des Hirsches ist aus Knochensubstanz und wird jedes Jahr abgeworfen. Es besteht aus der Stange, die sich in Gabeln und schliesslich in Enden teilt. Bei grossen Tieren mündet das Geweih in zahlreichen Enden und bildet eine Krone. Der Aufbau des Geweihs wird hormonell gesteuert, ebenso der Abwurf im Februar. Da der Hirsch die für den Aufbau benötigten Mineralien mit der Nahrung aufnimmt, hängen Geweihwachstum und -ausbildung stark von der Menge und der Zusammensetzung der im Frühling verfügbaren Nahrung sowie von genetischen Vorgaben des Tieres, Klima usw. ab. In der Zeit des Geweihwachstums, die 120 bis 140 Tage dauert, ist das Geweih von einer behaarten Haut, dem Bast, überzogen, den die Hirsche im Juli abstreifen.

Der junge Hirsch hat nur je einen Spiess, weshalb man ihn Spiesser nennt. Im nächsten Jahr wächst ihm ein Geweih mit vier bis acht Enden, und im übernächsten trägt er bereits acht bis zehn Enden. Da für die Ausbildung des Geweihs aber viele Faktoren verantwortlich sind, kann man das Alter des Tieres daran nicht genau ablesen. Die grösste Auslage wird zwischen dem siebten und zehnten Lebensjahr erreicht. Gegen das Lebensende (ein Hirsch wird höchstens 20 Jahre alt) nimmt die Grösse wieder ab, "er setzt zurück". In den Alpen haben Hirsche eher schwache Geweihe, weil ihnen in der Wachstumszeit oft wenig Nahrung zur Verfügung steht. Die schönsten Geweih-Exemplare werden knapp über einen Meter lang, wiegen sieben bis acht Kilo und haben 16 bis 18 Enden.

Lebensraum, Wanderung

In den meisten europäischen Ländern lebt der Hirsch versteckt im Wald. Tagsüber bleibt er in seinem Einstand und tritt erst bei einbrechender Dämmerung in offenes Gelände hinaus. Gewisse Populationen, wie zum Beispiel jene in Schottland, leben allerdings ständig im offenen Gelände, da es dort keine zusammenhängenden Wälder hat. Die in den Hochalpen lebenden Hirsche halten sich gerne auf ruhigen Alpweiden zwischen 2000 und 2700 m auf – und wenn sie sich sicher fühlen, sind sie hier sogar tagsüber zu beobachten.

Hirsche fürchten weder ausgesetzte Stellen noch steile Hänge und bewegen sich sicher in diesen Höhen, bis der erste Schnee fällt. Der Schnee zwingt die im Gebirge lebenden Hirsche zu saisonalen Wanderungen. Sobald die Schneedecke 20 oder 30 cm beträgt, verschieben sich die Rudel in tiefer gelegene Wälder oder suchen sonnseitig gelegene Hänge auf. In einigen Regionen, wie zum Beispiel im Engadin, wandern die Hirsche deswegen bis zu 40 Kilometer weit. Im Winter bewegen sich die Hirsche wenig, um nicht zu viel Energie zu verbrauchen.

Um 1850 war der Hirsch fast vollständig aus der Schweiz verschwunden, nur in Graubünden hielten sich noch ein paar Rudel. Die Wiederansiedlung begann 1870 durch natürliche Einwanderung aus dem österreichischen Montafon. 1926 siedelte man zwei Stiere und drei Hirschkühe im Val Ferret im Wallis an. In der Zwischenzeit haben sich die Tiere stark vermehrt und beleben praktisch die gesamten Schweizer Alpen: 2019 zählte man in der Schweiz knapp 40'000 Rothirsche.

Spuren der Anwesenheit

Die am häufigsten anzutreffenden Spuren sind Huftritte (30 bis 65 mm breit, 40 bis 80 mm lang) und Kot. Dieser markante Kot – oder "Losung" wie der Jäger sagt – findet sich als etwa 20 bis 25 mm lange, an einem Ende zugespitzte Zylinder, die entweder einzeln oder in Paketen von 4 bis 5 cm Durchmesser herumliegen.

Sichtbar sind ausserdem die Suhlen und die Bäume, an denen sich die Hirsche "fegen". Suhlen sind mit Schlamm gefüllte Erdvertiefungen, in denen die Hirsche Bäder nehmen. Unter Fegen versteht man das Abstreifen der Basthaut nach der Fertigausbildung des Geweihs. Dazu reiben, schlagen und scheuern die Stiere ihr Geweih an Bäumen und Sträuchern, was deutliche Spuren in Form von abgeschabter Rinde und verletzten Bäumen hinterlässt.

Sozialleben

Ausserhalb der Brunftzeit leben Hirschkühe und Stiere getrennt, alte Hirsche sind ausgeprägte Einzelgänger. Das Herdenleben ist wichtig in den offenen Gegenden wie Schottland oder auf den Sommerweiden in unseren Bergen. Die soziale Organisation ist matriarchal aufgebaut. Die Hirschkuh bildet mit ihren Kälbern während des ersten und zweiten Lebensjahres den Kern der Familie. Im Winter vereinigen sich mehrere Familien zu einem Rudel. Während ihren Wanderungen führt eine Leitkuh das Rudel an. Sie gibt das Signal zur Flucht, wenn Gefahr im Anzug ist.

Ernährung

Wenn der Mensch den Lebensraum der Hirsche zu stark stört, werden die Hirsche zu nachtaktiven Tieren. Sie weiden dann vorzugsweise in geschützten Zonen wie Lichtungen und halten sich nicht im geschlossenen Hochwald auf. Ihre Nahrung besteht zu zwei Dritteln aus Gräsern und Kräutern und zu einem Drittel aus Rinde, Nadeln und Blättern. Ein Hirsch verschlingt pro Tag 8 bis 20 Kilo Futter. In den Bergen ernährt er sich ausser von Gras auch von Himbeeren, Heidelbeeren, Vogelbeeren und Brombeeren. Hirsche lieben auch Früchte und Eicheln. Im Winter halten sie sich an die Rinde von Laubbäumen, an Flechten, Moose und Harz. Bei den Bauern fallen sie in Ungnade, wenn sie sich an ihren Kulturen vergreifen. Hier sind es vornehmlich Getreide, Mais, Kartoffeln und Rüben, die die Hirsche anlocken.

Fortpflanzung

Die Brunftzeit ist speziell interessant. Sie findet zwischen Mitte September und Mitte Oktober statt und ist ein Schauspiel der besonderen Art. Die Hauptbrunft spielt sich in der Regel in der ersten Oktoberwoche ab, in von Hirschen dicht besiedelten Gebieten kann sie auch etwas früher einsetzen. Die Männchen sind vor allem in der Dämmerung und nachts aktiv, aber in Gebieten, wo sie wenig gestört werden, kann Brunft und Paarung auch am Tag beobachtet werden. Gegen Ende August entwickelt und vergrössert sich die Brunftmähne des Männchens.

Die grossen Hirsche tauchen als Erste auf den Brunftplätzen auf. Sie legen ihre Scheu ab, werden aggressiver und wandern mehr herum. Es sind vor allem die über fünf Jahre alten Stiere, die sich aktiv an der Brunft beteiligen und sich als Zuchtstiere betätigen. Unter ihnen entwickelt sich eine klare Hierarchie auf Grund von Einschüchterungsritualen, Scheinangriffen und manchmal auch heftigen Kämpfen. Der Platzhirsch ist das grösste oder schwerste Tier.

Der Brunftschrei besteht aus einem gutturalen Röhren oder Orgeln, das zwischen dem Knurren eines Löwen und dem Muhen einer Kuh liegt. Das Brunftgeschrei bildet eine eigentliche Sprache mit wechselnder Tonlage, unterschiedlicher Frequenz und Intensität. Ein sehr erregter Hirsch stösst bis zu 500 Schreie pro Stunde aus! Die Brunft gibt dem Hirsch die Gelegenheit, seine Präsenz zu markieren, seine Rivalen zu provozieren und die Kühe zu erregen. Phasen von Hyperaktivität werden abgelöst von Ruhepausen.

Da aber ein Stier in der Brunft praktisch aufhört, Nahrung zu sich zu nehmen, kann er deswegen bis zu 20% seines Gewichts verlieren. Brünftige Hirsche suchen öfter Suhlen auf, um Schlammbäder zu nehmen. Auch mit anderen Verhaltensweisen versuchen sie, ihre Aggressivität loszuwerden: Sie attackieren Bäume und Büsche mit ihrem Geweih, gehen auf Baumstrünke los, reiben sich an jungen Bäumen und wühlen den Boden auf, wobei sie gleichzeitig urinieren und Sperma versprühen.

Hirsche sind polygame Tiere. Der Stier bildet nicht einen Harem um sich herum, sondern nähert sich einem bereits bestehenden Rudel von Kühen. Er bleibt in ihrer Nähe, folgt ihnen auf Schritt und Tritt und holt die Tiere zurück, die sich entfernen. Die Kühe sind im Alter von 16 Monaten geschlechtsreif. Die Tragzeit beträgt acht Monate. Die Kuh bringt im Juni an einem ruhigen Ort ein einziges Kalb zur Welt. Vorher sorgt sie dafür, dass sich das Kalb, das sie im Vorjahr auf die Welt gestellt hat, von ihr entfernt.

Das Hirschkalb

Ein Hirschkalb wiegt bei der Geburt sechs bis acht Kilo. Es hat ein rötliches Fell mit hellen Flecken und einen kurzen, spitzen Kopf. Bis zum Alter von drei Monaten bildet die Muttermilch seine Hauptnahrung. Am Anfang bleibt das Kalb immer in der Nähe der Mutter, dann gesellt sich das einjährige Kalb dazu, und zusammen bilden sie die eigentliche Hirschfamilie.

Nach sechs Monaten wiegt das Kalb zwischen 45 und 60 Kilo. In diesem Alter lässt sich das Geschlecht eines Hirsches kaum bestimmen, ausser man kann ihn beim Urinieren beobachten. Im Winter ist das Wachstum des Jungen verlangsamt, beschleunigt sich wieder im folgenden Frühling. Im Alter von zwei Jahren hat das Jungtier drei Viertel seines endgültigen Gewichts erreicht. In den Bergen ist wegen der Kälte, der Feuchtigkeit und des knappen Nahrungsangebots die Sterblichkeit der Jungtiere hoch. Die Fortpflanzungsrate (überlebensfähige Kälber im Verhältnis zur Zahl der Kühe) liegt in den Alpen bei 45%.

Feinde und Jagd

Früher regulierte der Wolf die Hirschpopulation. Gegenwärtig kennt der Hirsch praktisch keine natürlichen Feinde mehr, denn Luchs, Adler und Fuchs können allenfalls Neugeborene erbeuten, wenn sich die Mutter kurz entfernt, was aber relativ selten vorkommt. Da die natürliche Sterblichkeit nicht ausreicht, um den Bestand zu regulieren, ist die Jagd das einzige Mittel, um das Wachstum in Grenzen zu halten. Im Engadin ist die enorme Verbreitung des Hirsches ein echtes Problem für die Forst- und Landwirtschaft. Die kantonalen Behörden liessen deshalb die Jagd intensivieren, denn um eine Population zu stabilisieren, müssen zwischen 15 und 20% des Bestandes abgeschossen werden.

(TR)