Unheimliche Dinge gehen in den Schutzgebieten der Schweiz vor sich: Wie von Geisterhand verschwinden Arten aus Feuchtgebieten und Blumenwiesen. Die Festungen, die als Rückzugsorte für die in Bedrängnis geratene biologische Vielfalt gedacht waren, wanken. Das Überleben vieler bedrohter Tier- und Pflanzenarten, die dort Zuflucht gesucht haben, ist nicht mehr garantiert.

Welcher Fluch hängt über den Kronjuwelen des Naturschutzes? Viele Flächen sind zwar sehr klein und isoliert, was dazu führt, dass der Austausch von Individuen zwischen Populationen, der für das langfristige Überleben der meisten Arten essenziell ist, nur sehr eingeschränkt oder gar nicht stattfinden kann. Doch auch in grossen, optimal unterhaltenen Gebieten verschwinden Arten.

Ursachen des Artenschwundes

Hilfreich ist, sich die Ursachen des Artenschwunds im landwirtschaftlich genutzten Grünland genauer anzuschauen. In Wiesen, die viel Gülle bekommen und mehrmals im Jahr gemäht werden, wachsen nur wenige Pflanzenarten. Grasland, das nicht gedüngt oder nur einmal im Jahr mit wenig Mist behandelt wird und bloss einen bis zwei Schnitte erfährt, beherbergt dagegen oft eine bunte Artenvielfalt. Jeweils im Herbst lässt sich zum Beispiel im Hochtal von Rothenthurm (SZ) das Nebeneinander der verschiedenen Nutzungsintensitäten in der Landschaft gut erkennen: Saftig grüne, aber artenarme Intensivwiesen wechseln sich mosaikartig ab mit artenreichen Wiesen, die mit verschiedensten Braun- und Rottönen die Landschaft attraktiv machen und wertvolle Lebensräume sind.

Der Dünger kommt per Luftpost

Wie drastisch sich eine Düngung auf die Artenvielfalt auswirkt, bewiesen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus den Niederlanden bereits in den 1980er-Jahren: Nachdem sie bunte Magerwiesen mit 100 Kilogramm Stickstoff pro Hektare und Jahr gedüngt hatten (dies entspricht der Düngung einer mittelintensiv genutzten Wiese in der Schweiz), sank der Artenreichtum bereits nach zwei Jahren um fast die Hälfte. Forschende der Universität Zürich und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) haben vor fünf Jahren in Experimenten mit einigen typischen Pflanzenarten unserer Wiesen und Weiden einen wichtigen Mechanismus aufzeigen können, der die Arten zum Verschwinden bringt.

Die Forschungsresultate deuten darauf hin, dass vielen Pflanzen regelrecht das Licht ausgeht. Einzelne Arten sind dank der Düngung deutlich schneller gewachsen als andere, die überwuchert, beschattet und schliesslich eliminiert wurden. Denn ohne Licht ist pflanzliches Wachstum nicht möglich. Sobald die Forschenden dem Unterbewuchs künstlich Licht zuführten, blieben auch unterdrückte Arten erhalten.

Aber was hat das alles mit der Artenvielfalt in Schutzgebieten und anderen naturnahen Lebensräumen zu tun, die Arten verlieren, ohne Gülle, Mist oder gar Kunstdünger zu bekommen? Im Jahr 2005 stellte ein Bericht der Eidgenössischen Kommission für Lufthygiene fest: Die Schweiz wird flächendeckend gedüngt. Von Natur aus beträgt der atmosphärische Eintrag von biologisch aktivem Stickstoff lediglich 0,5 Kilogramm pro Hektare und Jahr. Dieser Wert hat sich in den letzten 100 Jahren vervielfacht. Hierzulande gelangen Jahr für Jahr im Durchschnitt 19 Kilogramm Stickstoff auf jede einzelne Hektare Boden. Je nach Standort schwankt dieser Wert zwischen 3 und 54 Kilogramm. Die Stickstofffrachten stammen aus der Viehhaltung und aus Verbrennungsprozessen, entweichen in die Atmosphäre, werden mit dem Wind verfrachtet und gasförmig oder mit dem Regen und dem Feinstaub über dem Land verteilt. "Der Dünger kommt per Luftpost", sagt Sarah Pearson, Sektionschefin Arten und Lebensraume beim BAFU.

Fauna und Flora erleiden grosse Verluste

Ob diese Düngung die Biodiversität in der Schweiz beeinträchtigt, haben Lukas Kohli und Tobias Roth von der Umweltberatungsfirma Hintermann & Weber AG in Reinach (BL) im Auftrag des BAFU untersucht. Analysen zeigen, dass die hohen Stickstoffeinträge in die Ökosysteme deutliche Spuren in der Vegetation hinterlassen. Als Grundlage dienten Daten aus dem Biodiversitäts-Monitoring Schweiz. In einem der Messnetze erheben Artenspezialisten die Pflanzenzusammensetzung auf 1500 Flächen, die quer über die ganze Schweiz verteilt und je 10 Quadratmeter gross sind. Die Firma Meteotest bestimmte den jährlichen Stickstoffeintrag jeder einzelnen Fläche.

Die Resultate sind bedenklich: Für artenreiche Bergwiesen zeigen sie beispielsweise eine tiefe Artenvielfalt auf Flächen mit einem hohen atmosphärischen Stickstoffeintrag. Gleichzeitig steigt der Anteil an nährstoffliebenden Pflanzenarten, die den Stickstoff besser verwerten können als solche, die an eine geringe Nährstoffversorgung angepasst sind, wie dies von Natur aus die Regel ist.

"Die Stickstoffeinträge sind neben der direkten Zerstörung von Lebensräumen und der Landschaftszerschneidung zu einer der grössten Gefahren für die Biodiversität in der Schweiz geworden", erklärt Sarah Pearson. Mit der pflanzlichen Vielfalt verschwinden auch die Tierarten. Wildbienen und anderen Bestäuberinsekten wird die Lebensgrundlage entzogen, die Raupen der Schmetterlinge finden ihre spezifische Nahrungspflanze nicht mehr vor, und wärmeliebende Kleininsekten fühlen sich in der immer üppiger wachsenden Vegetation mit zunehmend feuchteren und kühleren Bodenbereichen unwohl und verschwinden.

Alle Hochmoore sind betroffen

Nicht jeder Lebensraum reagiert gleich auf die Stickstoffeintrage. Hochempfindlich sind die von der Bundesverfassung ausdrücklich geschützten Hochmoore; ihre Bewohner haben sich im Laufe der Evolution an die extreme Nährstoffarmut der Torfböden angepasst. Jede Extraration Stickstoff ist eine Bedrohung für Hungerkünstler wie etwa den insektenfressenden Sonnentau, die langsam aber sicher durch Wollgras und Rosmarinheide verdrängt werden.

Aufgrund der unterschiedlichen Stickstoffempfindlichkeit der einzelnen Lebensräume hat ein internationales Team aus Forschenden unter Mitwirkung von Beat Achermann von der Abteilung Luftreinhaltung und Chemikalien beim BAFU für alle wichtigen Lebensräume auf der Erde den maximal tolerierbaren Stickstoffeintrag in naturnahe Ökosysteme definiert. So sollten nährstoffarme Teiche nicht mehr als 3 bis 10 Kilogramm Stickstoff pro Hektare und Jahr erhalten. Bei Hochmooren liegt die Belastungsgrenze zwischen 5 und 10, bei artenreichen Heuwiesen und bei Laubwäldern zwischen 10 und 20.

In der Schweiz werden diese Werte vielerorts überschritten. Analysen haben ergeben, dass 100 % der Hochmoore, 95 % der Wälder, 84 % der Flachmoore und 42 % der besonders artenreichen Wiesen und Weiden viel zu hohen Stickstoffeinträgen aus der Luft ausgesetzt sind. In diesen Flächen verändern sich die Umweltbedingungen so stark, dass Arten mittel- bis langfristig ausgelöscht werden. Flachmoore verwandeln sich in triviale Hochstauden-Gesellschaften und Magerwiesen werden zu allgegenwärtigem Normgrünland. Der Stickstoff, der aus der Atmosphäre in die naturnahen Lebensräume tröpfelt, stammt vor allem aus der Viehhaltung. Weil die Probleme Dutzende bis Hunderte von Kilometern weit entfernt von der eigentlichen Stickstoffquelle entstehen, wurde den Stickstoffeinträgen viel zu lange nicht die ihnen gebührende Beachtung geschenkt. Ein vordringliches Ziel der Strategie Biodiversität Schweiz des Bundes ist es deshalb, die Stickstoffverluste an der Quelle zu reduzieren.

Ökosystemleistungen schwächen sich ab

Im Gegensatz zur Zerstörung von Lebensräumen ist der Stickstoffeintrag aus der Luft eine besonders perfide Ursache des Biodiversitätsverlusts: Das Aussterben findet schleichend statt. Das lokale und regionale Verschwinden von Arten ist dabei nicht nur ein ethisches Problem. Mit dem Verlust biologischer Vielfalt besteht die Gefahr, dass die Ökosysteme verschiedene Leistungen nicht mehr erbringen können, die wichtig für das Wohlbefinden der Menschen sind. Dazu gehören intakte Böden, sauberes Trinkwasser und die Erholungsfunktion einer abwechslungsreichen Landschaft. Sarah Pearson folgert: "Wenn es nicht bald gelingt, die Stickstoffeffizienz der Landwirtschaft deutlich zu erhöhen, werden viele Massnahmen zur Erhaltung und Förderung der Biodiversität, die im Rahmen des Aktionsplans der Strategie Biodiversität Schweiz vorgesehen sind, ausgehebelt."

Pufferzonen gegen die Nährstoff-Flut

Um die Nährstoffe davon abzuhalten, seitlich in die Schutzgebiete zu fliessen, werden sogenannte Pufferstreifen eingerichtet. Studien haben gezeigt, dass ungedüngte Zonen mit einer Breite von 10 bis 20 Metern den oberflächlichen Stickstoffeintrag um 70 bis 99 Prozent senken können.

Laut Naturschutzgesetzgebung müssen alle Biotope von nationaler Bedeutung wie beispielsweise Moore grundsätzlich mit ökologisch ausreichenden Pufferzonen ausgestattet werden. Die Verantwortung dafür liegt bei den Kantonen. Doch die Realität sieht anders aus: Die Hälfte bis zwei Drittel der gefährdeten Auen-, Flachmoor- und Hochmoorflächen sind noch nicht durch Pufferzonen geschützt.