Der Alpenraum verändert sich. Schutzwälder nehmen darin einen wichtigen Stellenwert ein. Sie können gerade in höheren, schneereichen und steilen Lagen die Auslösung von Lawinen verhindern. Schnee, der auf die Baumkronen fällt, verdunstet dort, außerdem fällt er ungleich verteilt hinunter und verhindert dabei den schichtweisen Aufbau der Schneedecke. Ebenso sind die Wind-, Temperatur- und Strahlungsverhältnisse besonders in Wäldern mit einem hohen Fichtenanteil durch ihr immergrünes Kronendach so beschaffen, dass die gefährlichen Schwachschichten in der Schneedecke gar nicht erst so richtig entstehen. Diese Schichten sind verantwortlich dafür, dass sich eine Schneedecke in Bewegung setzt, vorausgesetzt, es gibt einen Auslöser.
Kombinierte Ereignisfälle oder Compound Events
Der Klimawandel jedoch verändert die Rahmenbedingungen für Naturgefahren und Waldstörungen durch Windwurf und Borkenkäfer, was die Intensität, Häufigkeit und Verteilung von Schadensereignissen erhöhen kann. Dabei handelt es sich vermehrt um sogenannte „Compound Events“, die durch eine Kombination mehrerer wetter- und/ oder klimabedingter Gefahren charakterisiert sind. Um diese Auswirkungen auf die Schutzwirkung von Wäldern zu verstehen, erheben Michaela Teich und ihr Team vom BFW im Interreg Alpine Space-Projekt MOSAIC zahlreiche Daten. „Das BFW schaut sich genauer an, wie sich der Schneedeckenaufbau und die Schutzwirkung von Wäldern gegen Lawinen nach Sturmschäden und Borkenkäferbefall verändert.
Dabei werden geräumte und nicht geräumte Waldflächen verglichen“, sagt Michaela Teich. Eine Frage ist, wie lange stehendes und liegendes Totholz noch eine Schutzwirkung aufweist und ab wann die Verjüngung diese übernehmen könnte. Die Schutzwaldexpertin weiter: „Gerade bei großflächigen Windwurf- oder Borkenkäferschäden im Schutzwald müssen bei der Aufräumung Prioritäten gesetzt werden.“ Das MOSAIC-Konsortium besteht aus zwölf Partnern aus sechs Alpenländern und wird von der EU kofinanziert. Gemeinsam werden Daten und Modelle zu wetter- und klimabedingten Schadensereignissen in den Alpen gesammelt und harmonisiert, um daraus Trends zu modellieren und diese Informationen den im Naturgefahrenmanagement tätigen Personen zugänglich zu machen.
Basierend auf den MOSAIC-Forschungsergebnissen, werden etablierte Naturgefahren- und Risikomodelle aktualisiert und Open Access zur Verfügung gestellt. Ein alpenweites Netzwerk von Waldlaboratorien soll das Bewusstsein von Waldbesitzer:innen, Förster:innen, Naturgefahren – und Risikomanager:innen, und der interessierten Öffentlichkeit schärfen. Das österreichische Waldlaboratorium ist das Modell-Wildbacheinzugsgebiet Rindbach bei Ebensee in Oberösterreich.
Wissenschaft mit guter Aussicht
Während sich MOSAIC mit dem Alpenraum befasst, kann man Forschung auch vor der Haustüre betreiben. Das Institut für Naturgefahren des BFW befindet sich in zentraler Lage in Innsbruck, in der Hofburg. Institutsleiter Jan-Thomas Fischer kann direkt von seinem Büro auf die spektakuläre Kulisse der Nordkette blicken. Rein theoretisch könnte er die Lawinen beobachten, die beim Hafelekar runtergehen. Dort werden sie für Forschungszwecke ausgelöst.
Rein theoretisch, denn den Lawinenforscher zieht es im Zweifelsfall immer zum Ort des Geschehens. Rüber zur Hungerburgbahn und mit ihr rauf zur Bergstation und weiter in die Höhe. Für Lawinenforscher:innen stehen immer zwei große Fragen im Raum: Welches Zerstörungspotenzial hat die Lawine? Und wie weit kommt sie? Die meisten Simulationswerkzeuge wurden für sehr große bis zu extrem großen Katastrophenlawinen mit 100.000 bis eine Million Kubikmeter Schnee ausgelegt. Die Lawinen im Hafelekar gehören mit bis zu 10.000 Kubikmeter zu den mittleren bis großen Lawinen.
Sensoren mit der Lawine mitschicken
Abb.2: In das Innere von Schneemassen werden Sensoren eingebracht, die in robusten orangen und grünen Hüllen verpackt sind. Foto: BFW
Das Naturgefahrenteam geht im Projekt AvaRange „näher“ an die Lawine heran. In das Innere von Schneemassen werden Sensoren eingebracht, die in robusten orangen und grünen Hüllen verpackt sind. Anschließend wird von der verantwortlichen Kommission eine Lawine abgesprengt. „Mit den Sensoren versuchen wir zu messen, was der Partikel innerhalb der Lawine erlebt. Uns interessieren Rotation, Geschwindigkeit und Beschleunigung“, meint Fischer. Aus diesen In-Flow-Daten mit hoher Präzision lassen sich Rückschlüsse auf das Fließverhalten ziehen.
Jetzt zeichnet sich schon ab: Direkt nach der Auslösung kommt es zu einer schnellen Beschleunigung, dann fließt die Lawine mit rund 50 Kilometer pro Stunde gleichmäßig dahin, bis sich beim Anhalten Rotationsbewegungen einstellen. Die Untersuchungen erfolgen durch das Institut für Naturgefahren des BFW in Kooperation mit der TU Berlin und Universität Innsbruck und werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem FWF-Wissenschaftsfonds finanziell unterstützt.
Sicherheit im Wintersport
Obwohl es kein primäres Forschungsziel von AvaRange ist, könnte das Projekt auch zu mehr Sicherheit im Wintersport beitragen. „Verstehen wir den Partikeltransport und die Bewegungen in Lawinen besser, könnten wir den Verschüttungsort von Wintersportler:innen besser vorhersagen oder sogar mit den entsprechenden Simulationswerkzeugen modellieren“, sagt Fischer. Die Verbindung von Feldmessung mit Computersimulationen ist dafür der Schlüssel – hierbei helfen die digitalen Werkzeuge des Open Source-Frameworks AvaFrame. Die Forscher:innen überlegen bereits, ob sie in einem der nächsten Schritte Sensoren in Lawinenrucksäcken mitschicken – ein Beispiel für angewandte Naturgefahrenforschung, die einen Beitrag zu mehr Sicherheit im alpinen Raum leisten könnte.
In der Wintersaison 2022/23 wurden 191 Lawinen dokumentiert (Quelle: österreichische Lawinenwarndienste, Plattform LAWIS): In 156 Lawinen waren 439 Personen involviert, 64 wurden verletzt, 15 Personen verunglückten tödlich. Die Hälfte davon war ohne Lawinenverschüttetensuchgerät, Schaufel und Sonde unterwegs.