In den letzten 80 Jahren forderten Lawinen in der Schweiz durchschnittlich 25 Todesopfer pro Jahr. In den Lawinenwintern von 1951, 1975, 1984 und 1999 waren dies noch viele Personen in und um Siedlungen im Berggebiet. Heute sind über 90% der Lawinenopfer Wintersportler im freien Gelände.

Die Katastrophenereignisse der Lawinenwinter brachten die Lawinengefahr medial ins gesellschaftliche Bewusstsein und lösten öffentliche Mittel für die Verbesserung des Schutzwaldes und den Ausbau von Lawinenverbauungen aus. Der Zustand des Bergwaldes war nämlich noch im letzten Jahrhundert viel schlechter als heute. Materielle Not und Energiemangel hatten zum Raubbau an den Wäldern geführt. Mittlerweile haben sich die Bergwälder wieder ausgedehnt und sind meist dichter geworden. Aufforstungen sowie intensivierte Pflege haben die Schutzwirksamkeit der Wälder verbessert.

Natürliche Störungen wie beispielsweise Windwürfe können den Lawinenschutz jedoch immer noch schlagartig in Frage stellen. Dichte Wälder schützen zwar optimal vor Lawinen. Fehlt ihnen der Jungwuchs, wie dies heute verbreitet vorkommt, brauchen sie nach einer Störung lange, bis sie wieder ihre volle Schutzwirkung erreichen. Das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos erforscht deshalb die Wirkung und natürliche Dynamik sowohl von offenen Wäldern mit ungenügender Schutzwirkung wie auch von dichten, homogenen Schutzwaldbeständen.

Entstehung von Lawinen

Eine Schneedecke ist kein ruhig daliegendes, homogenes Gebilde. Schnee ist eine Materie nahe am Schmelzpunkt und befindet sich wegen seinem Eigengewicht dauernd in einer langsamen Kriechbewegung hangabwärts (mehr dazu).

Die Schneedecke ist aus verschiedenen Schichten aufgebaut, bedingt durch die Schneefälle und den Witterungsverlauf. Durch eine von aussen einwirkende Zusatzbelastung (z.B. durch Schneesportler) oder eine Schwächung (z.B. durch starke Erwärmung) kann ein Initialbruch in einer bruchanfälligen Schwachschicht erfolgen. Ist die Schichtung über weite Flächen verteilt kritisch, kann sich ein Bruch ausbreiten und grosse Teile der Schneedecke können mit grosser Geschwindigkeit als Lawine abgleiten.

Ohne eine genügende Steilheit (Hangneigung von ca. 30°) gibt es keine Lawinen. Hinzu kommen noch Faktoren, die weniger sichtbar sind: Besonders der Wind gilt als Baumeister der Lawinen, da Triebschneeansammlungen die Schneedecke zu grosser Mächtigkeit anwachsen lassen. Eine ungünstige Beschaffenheit der Schneekristalle und der Schichten in der Schneedecke oder des Bodens schaffen ebenfalls häufig die Voraussetzungen für die Bildung von Lawinen.

Wald als Lawinenschutz

Im Wald brechen wegen den folgenden Vorgängen kaum Lawinen an:

  • Ein Wald fängt beträchtliche Mengen des Neuschnees in seinen Baumkronen auf (Abb. 1 und 2). Dieser verdunstet entweder direkt auf dem Baum oder gelangt früher oder später in Form von Schneeklumpen oder Schmelzwasser in die Schneedecke. Man nennt dies Schnee-Interzeption. Im geschlossenen Waldbestand wird die Schneedecke dadurch deutlich weniger mächtig und ist stärker strukturiert als im offenen Gelände (Abb. 3). Die herunterfallenden Schneeklumpen, Wassertropfen, Nadeln und Äste verdichten die Schneedecke. Durch diese Störung der Schneedecke bilden sich weniger zusammenhängende, schwache Schneeschichten.
  • Im Wald ist die Windgeschwindigkeit im Vergleich zum Freiland reduziert. Grossflächige Schneeverwehungen, sogenannte Triebschneeansammlungen, entstehen im Wald normalerweise nicht.
  • Weil kein Freiluftklima herrscht, gibt es im Wald eine geringere Abstrahlung während der Nacht. Dadurch bildet sich im Wald weniger Oberflächenreif (Abb. 4). Oberflächenreif besteht aus blattförmigen, grossen, zerbrechlichen Eiskristallen, welche sich nach sternklaren Nächten auf der unterkühlten Schneeoberfläche bilden. Eingeschneite Oberflächenreife bilden eine ideale Gleitschicht für Lawinen. Zusätzlich sind die Temperaturunterschiede innerhalb der Schneedecke im Wald geringer als im Freiland. Die Bildung von unstabilem Schwimmschnee in bodennahen Schichten kommt im Wald deshalb weniger häufig vor.
  • Baumstämme, Wurzelstöcke, aber auch liegende Bäume helfen mit ihrer abstützenden Wirkung, die Schneedecke zu stabilisieren und erhöhen die Rauigkeit des Bodens. Sogar in nicht oder nur wenig geräumten Windwurfflächen wurden bisher kaum Lawinenanrisse beobachtet.

Die Waldstruktur hat insbesondere im Lawinenanrissgebiet einen wichtigen Einfluss auf die Auslaufdistanz einer Lawine, da Bäume die Masse und damit die Energie und Reichweite einer Lawine verringern. Wie neuere Untersuchungen am SLF zeigen, leisten bereits kleinere Bäume im Anrissgebiet einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der Reichweite einer Lawine.

Grenzen im Lawinenschutz

Zwar kann der Wald auch zur Abbremsung von bereits angerissenen Lawinen beitragen. Dieser Effekt beschränkt sich jedoch auf kleinere bis mittelgrosse Lawinen. Grössere Lawinen, welche mehr als ca. 150 – 200 Meter oberhalb des Waldes angerissen sind, können auch durch einen intakten Wald nicht mehr aufgehalten werden (Abb. 6).

Im Wald selbst können Lawinenanrisse auch nicht immer ausgeschlossen werden, besonders in steilen und lückigen Wäldern und bei bestimmten Schnee- und Witterungsbedingungen Im Vergleich zu Freilandlawinen finden Waldlawinen allgemein bei mächtigeren Schneedecken statt, da dann der Einfluss der Bodenrauigkeit im Wald verringert ist. Besonders anfällig für Waldlawinenanrisse sind dabei zwei Schnee- und Witterungssituationen:

  • Perioden mit starkem Schneefall, wenig Sonneneinstrahlung, viel Wind und kalten Temperaturen. Es können sich sogenannte Wildschneelawinen bilden, welche aus sehr lockerem Schnee bestehen, der wegen fehlender Einstrahlung und kalten Temperaturen während des Schneefalls wenig durch die Interzeption in den Baumkronen beeinflusst wird. Diese Situationen treten vor allem in subalpinen, nordexponierten Wäldern auf.
  • Alt- und Nassschneesituationen nach Perioden mit ergiebiger Sonneneinstrahlung, Erwärmung und/oder nasser Schneedecke. Zu diesen Situationen gehören auch Gleitschneelawinen, welche auf glattem Untergrund und bei durchfeuchteter Schneedecke beispielsweise in südexponierten Laubwäldern vorkommen.

Dichte Wälder schützen besser vor Lawinen als gelichtete oder offene Wälder. Die Schutzwirkung ist im offenen Wald oder in Waldlücken reduziert, weil dort die Interzeption geringer ist. Je besser in einem Wald noch Ski gefahren werden kann, desto weniger eignet er sich als Lawinenschutzwald. Auch die Baumart ist wichtig: Immergrüne und dicht benadelte Baumarten wie Fichte und Arve schützen deutlich besser als die winterkahlen Lärchen- oder Laubwälder, denn die immergrünen Nadelbäume halten mehr Schnee in den Kronen zurück.