Es dröhnt, der Boden zittert. Das Birkhuhn, das in seiner selbst gescharrten Schneehöhle vor sich hingedämmert hat, wähnt sich in Todesgefahr. Panisch flattert es auf, während die Skifahrer durch den Pulverschnee talwärts stieben. Sie ahnen nichts vom Drama, das sie mit ihrer Abfahrt durch den Wintereinstand des Vogels ausgelöst haben. Zurück bleibt ein desorientiertes Birkhuhn, das sich ein neues Iglu graben muss.

Das winterliche Energiebudget der Birkhühner ist äusserst knapp bemessen. Dies zwingt sie dazu, den grössten Teil der Tage und Nächte möglichst reglos in der Schneehöhle zu verbringen, wo sie vor Wind und Kälte einigermassen geschützt sind. Kräftezehrende Fluchten sind deshalb fatal. Wird ein Vogel zu oft dazu genötigt, gerät er in Dauerstress. Das Risiko, zu erkranken, an Erschöpfung einzugehen oder das Opfer eines Raubfeindes zu werden, ist dann erhöht, und die Chancen auf eine erfolgreiche Fortpflanzung im Frühling sinken.

Abnehmende Bestände

Der Schneesport abseits der Pisten boomt. Immer mehr Freerider, Varianten- und Tourenfahrer sowie Schneeschuhwanderer bewegen sich im Lebensraum der Wildtiere. Für Birkhühner befindet sich dieser im Bereich der Waldgrenze zwischen 1800 und 2300 Metern über Meer - da, wo sich auch die Wintersportanlagen konzentrieren. Störungen durch den Wintersport sind denn auch eine der Hauptursachen für die rückläufigen Birkhuhnbestände in den vergangenen Jahrzehnten. Das Verbreitungsgebiet des attraktiven Vogels wird zusehends kleiner.

Verschiedene Massnahmen können dazu beitragen, dass sich Birkhuhn und Freizeitmensch im Schnee nicht in die Quere kommen: Winterliche Ruhezonen, die nicht oder nur auf erlaubten Routen begangen werden dürfen, ermöglichen den Hühnern ein störungsfreies Dasein; markierte Routen für Schneeschuhwandernde kanalisieren den Freizeitbetrieb; und Informationskampagnen fördern ein naturverträgliches Verhalten bei den Schneesporttreibenden.

Innovatives Pilotprojekt

Vor allem in der Deutschschweiz gibt es bereits etliche Wildruhezonen. Hingegen besteht in der Romandie und im Tessin diesbezüglich Nachholbedarf. Dafür liegt die erste Winterruhezone, die nach wissenschaftlichen Kriterien eigens für Birkhühner eingerichtet wurde, in der französischsprachigen Schweiz, und zwar im Skigebiet von Anzère im Unterwallis. Plakate entlang der Piste informieren über Sinn und Zweck dieser Massnahme und legen dem Publikum nahe, das Gebiet zu meiden. Die Sensibilisierungsarbeit ist wichtig, denn es handelt sich nur um eine Empfehlung - das Befahren des Gebiets ist nicht strafbar. Umso mehr braucht es die Einsicht der Sporttreibenden.

Das Pilotprojekt steht unter der Leitung der in Sitten niedergelassenen Walliser Aussenstelle der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. "Die Gelegenheit war günstig", sagt der hier tätige Biologe Emmanuel Revaz. "Anzère war gerade dabei, die Entwicklung des Skigebiets für die nächsten 15 Jahre anzugehen. In Zusammenarbeit mit der Walliser Dienststelle für Jagd, Fischerei und Wildtiere konnten wir so erreichen, dass die Ausscheidung einer Wildruhezone in die Planung eingebaut wurde."

Als Kompensationsmassnahme zum Ausbau des Skigebiets dürfte die Walliser Kantonsregierung die empfohlene Wildruhezone demnächst in eine rechtskräftige umwandeln. Eine Übertretung kann dann strafrechtlich verfolgt werden.

Wissenschaftliche Grundlagen erarbeitet

Die Vogelwarte plädiert dafür, im Wallis 30 weitere solche Ruhezonen für das Birkwild auszuscheiden und diese in die offiziellen - verbindlichen oder empfohlenen - Wildruhezonen des Kantons zu integrieren. Das Echo der Walliser Dienststelle für Jagd, Fischerei und Wildtiere auf diesen Vorschlag ist positiv. Die Zahl 30 resultiert aus einem Forschungsprojekt unter der Leitung von Raphaël Arlettaz von der Abteilung Conservation Biology der Universität Bern, das aufzeigte, dass zwei Drittel der winterlichen Birkhuhneinstände von Schneesportaktivitäten abseits der Piste betroffen sind. Die Bestände des Vogels sind in Skigebieten im Durchschnitt nur halb so gross wie in vergleichbaren Gebieten ohne Skilifte.

Auf der Grundlage von Luftbildern, auf denen die Fährten der Hühner sowie deren Schneehöhlen ebenso wie die Spuren der Skis, Snowboards und Schneeschuhe sichtbar sind, wurde ein räumliches Modell entwickelt, das die Konfliktzonen zwischen Mensch und Birkhuhn sichtbar macht. Da, wo die Konflikte besonders virulent sind, können Ruhezonen die grösste Wirkung entfalten. "Die Gebiete, die wir vorschlagen, sind mit jeweils rund 40 Hektaren Fläche eher klein", erklärt Emmanuel Revaz. "Dafür sind sie optimal in der Landschaft verteilt, sodass dem Birkhuhn genügend Rückzugsräume bleiben."

Um die Ausscheidung von Wildruhezonen zu fördern, wurde 2012 die eidgenössische Jagdverordnung mit einem entsprechenden Passus ergänzt. Danach können die Kantone zum Schutz der Tierwelt vor Störung durch Freizeitaktivitäten und Tourismus entsprechende Gebiete ausscheiden und die darin zur Benutzung erlaubten Routen und Wege bezeichnen. Wer eine rechtskräftige Wildruhezone verbotenerweise betritt oder den vorgeschriebenen Pfad verlässt, riskiert eine Busse.

Informationskampagnen

Das BAFU unterstützt und berät die Kantone bei der Ausscheidung von Wildruhezonen und setzt sich für deren einheitliche Kennzeichnung im Gelände ein. So liess es zuhanden der Kantone das "Praxishilfeinstrument zur Ausscheidung von Wildruhezonen" erarbeiten. Zudem lancierte das Bundesamt 2009 zusammen mit dem Schweizer Alpen-Club (SAC) die Kampagne "Respektiere deine Grenzen", die für rücksichtsvolles Verhalten von Schneesportlerinnen und -sportlern im Lebensraum der Wildtiere wirbt.

Kernbotschaft sind vier Verhaltensregeln: Wildruhezonen beachten; im Wald auf den markierten Routen und Wegen bleiben; Waldränder und schneefreie Flächen meiden; Hunde an der Leine führen. Jährlich aktualisierte Karten mit sämtlichen rechtskräftigen und empfohlenen Wildruhezonen in der Schweiz finden sich auf der Website www.respektiere-deine-grenzen.ch und auf www.wildruhezonen.ch.

"Zum ersten Mal arbeiten wir in dieser Sache mit der Tourismus- und Outdoorbranche zusammen - und es läuft ziemlich gut", freut sich Kampagnenleiter Reto Solèr. Bis heute haben rund 100 im Bereich Freizeit und Tourismus tätige Organisationen sowie Naturpärke Massnahmen für einen naturverträglichen Schneesport ergriffen. Die Kampagne unterstützt sie mit Informationsmaterial, einer Schulungsmappe und Steckbriefen der betroffenen Tierarten.

Die Botschaft kommt an

Eine Anfang 2012 vom Meinungsforschungsinstitut Demoscope durchgeführte telefonische Befragung von rund 1000 Personen ergab, dass von den Botschaften der Kampagne einiges hängen geblieben ist. 69% der befragten Personen wussten über Wildruhezonen Bescheid, 75% waren der Meinung, dass Schneesport abseits der Pisten erhebliche (25%) oder zumindest mässige (50%) negative Auswirkungen auf die Tierwelt hat. Das Ergebnis ist ermutigend. Wenn es gelingt, bei Wintersportlerinnen und -sportlern rücksichtsvolles Benehmen im Lebensraum der Bergtiere zur selbstverständlichen Gewohnheit zu machen, lässt sich eine vermehrte Einschränkung des Zugangs zu immer mehr und immer grösseren Teilen der Landschaft vermeiden.