Die in den Schweizer Alpen praktizierte Steinwildjagd gilt als vorbildlich für eine artgerechte und nachhaltige Regulation von Wildbeständen. Dennoch sind in letzter Zeit in verschiedenen Steinbockkolonien Probleme aufgetreten. Sind sie buchstäblich ererbt?

Auch nach seinem Tod strahlt der Steinbock (Capra ibex) noch die Würde des Wildtiers aus, das in der harten Wirklichkeit der Bergwelt alt und weise geworden ist. Alles an ihm ist vom langen Leben gezeichnet und abgenutzt: das Gebiss, in dem noch ein Wacholderzweig steckt – die letzte Äsung gemäss Waidmannsbrauch –, das angegraute Fell, die abgeschliffenen Hörner. Sie sind in den letzten Jahren kaum mehr gewachsen.

Mehr als 16-jährig ist der Bock geworden, einen älteren hat bis anhin noch kein Bündner Jäger zur Strecke gebracht. Von seinen Artgenossen hatte er sich schon vor längerer Zeit abgesondert, ein Leben als Einzelgänger gefristet und auch am Brunftgeschehen nicht mehr teilgenommen. Am 13. Oktober 2004 hat ihn Cornelio Reato am Albulapass mit einem gut gezielten Blattschuss erlegt.

Tags darauf liegt das Tier in einer zum Wildhütermagazin umfunktionierten Garage in Bever GR auf dem Untersuchungstisch. Die Wildhüter Erwin Eggenberger und Gianni Largiadèr inspizieren, wiegen und vermessen es und tippen die Daten in einen Laptop. 68 Kilogramm zeigt die Waage an, nahezu 90 Zentimeter lang ist das Gehörn.

Modellhaft für eine nachhaltige Jagd

Die Bündner Steinwildjagd wird sorgfältig geplant und ist streng geregelt. Auf Grund der Bestandeszählungen durch die Wildhut wird festgelegt, wie viele Tiere welchen Alters den einzelnen Kolonien entnommen werden sollen. Erwin Eggenberger amtet als Koordinator. Bei ihm muss sich anmelden, wer an der Jagd teilnehmen will. Interessieren sich mehr Jäger, als Tiere zum Abschuss freigegeben wurden, entscheidet das Los. Doch für Gerechtigkeit ist gesorgt: Wer seinen Bock geschossen hat, muss in den folgenden Jahren passen; wer eine Niete zieht, ist für das nächste Jahr gesetzt. So kommen mit der Zeit alle zum Zug.

Zuerst die Geiss, dann der Bock

Die vorgängige Teilnahme an einem Instruktionskurs ist obligatorisch. Erwin Eggenberger teilt jedem Jäger einen Bock einer bestimmten Kolonie und Altersklasse zu. Es gilt, genau zu beobachten, bevor man abdrückt. Denn wer ein falsches, das heisst ein zu altes oder zu junges Tier schiesst, muss das Wildbret und die Trophäe dem Kanton abliefern. Ersteres kann er zwar für teures Geld zurückkaufen, nicht aber das begehrte Gehörn. Vor dem Bock ist eine Geiss zu erlegen. Das Geschlechterverhältnis muss ausgeglichen bleiben. So ist dafür gesorgt, dass die Bestände auf dem erwünschten Niveau reguliert werden und dass die Alterspyramide und soziale Struktur stets natürlichen Verhältnissen entsprechen.

Probleme in einzelnen Kolonien

Indessen konnte das wildtierbiologisch durchdachte Jagdmodell nicht verhindern, dass in einzelnen Kolonien in letzter Zeit Probleme aufgetreten sind. Die Bestände stagnieren oder gehen neuerdings gar zurück. Tiere im besten Alter erkranken an Lungenentzündung, viele gehen ein. Obschon die Probleme nur lokal auftreten und weit davon entfernt sind, das Überleben des Steinbocks in den Alpen zu gefährden, geben die Beobachtungen doch zu denken. Macht sich der Klimawandel bemerkbar? Die milder gewordenen Winter bringen veränderte Schneeverhältnisse. In den besten winterlichen Einstandsgebieten des Steinwilds liegt heute eher mehr und nasser Schnee als früher. Das behagt den Tieren nicht. Oder hat das Problem genetische Ursachen? Verwunderlich wäre dies nicht.

Rückgang auf ein paar Dutzend Tiere

Die genetische Basis der Steinwildbestände in den Alpen ist schmal. Auf bloss noch ein paar Dutzend Tiere war die einst mehrere zehntausend Individuen zählende Population in den Alpen zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschmolzen. Ein Grossteil der genetischen Vielfalt war damit bereits unwiederbringlich verschwunden. Als letztes Vorkommen blieb der Bestand im Gebiet Gran Paradiso in Italien. Um 1900 lebten hier wieder rund 3000 Tiere – dank strengem Schutz der Kolonie, die 1850 in die Obhut von Vittorio Emanuele II von Savoyen gekommen war.

66 Böcke und Geissen wurden vor Ort zwischen 1906 und 1923 eingefangen, in die Schweiz transportiert und danach in Gehegen gezüchtet (siehe Kasten). Die wenigen Zuchttiere repräsentierten nur einen Teil der ohnehin schon stark reduzierten Gendiversität der Gran Paradiso- Kolonie: Die Population war erneut durch einen "genetischen Flaschenhals" gegangen.
 

Illegaler Einwanderer

Aus der Schweiz verschwanden die letzten Steinböcke zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Am längsten hatte sich die Art in den Walliser Alpen halten können.

1906 wurden die ersten drei Zuchttiere aus dem Gran Paradiso importiert. Sie kamen illegal: Weil der König von Italien das bundesrätliche Ersuchen um die Lieferung von ein paar Tieren – vorgetragen anlässlich der feierlichen Eröffnung des Simplontunnels im Jahr 1905 – abschlägig beantwortet hatte, wurde das Geschäft mit Schmugglern abgewickelt.

1911 erfolgten die ersten Aussetzungen im Gebiet der Grauen Hörner im Kanton St. Gallen. Die Kolonien prosperierten. Die Bestände vermehrten sich gebietsweise gar zu wacker, so dass es zum Schutz des Bergwaldes vor Verbissschäden eine Bestandesregulation brauchte. Anfänglich geschah dies, indem man in zu gross gewordenen Kolonien Tiere einfing und dann anderswo aussetzte. Später wurden auch Abschüsse unumgänglich – ab 1977 im Bündnerland, in den Jahren danach auch in anderen Kantonen.

Heute (Stand: 2015) leben in unseren Alpen über 17'000 Steinböcke, davon 7200 im Kanton Graubünden und 5100 im Wallis. Im ganzen Alpenraum sind es um die 45'000. In den letzten Jahren wurden in der Schweiz jährlich etwa 1000 Steinböcke und -geissen erlegt.

Schmale genetische Basis

Dieser Prozess wiederholte sich bei jeder Koloniegründung in den Schweizer Alpen: Man entnahm einem bestimmten Bestand ein paar Tiere, um mit ihnen anderswo einen neuen zu begründen. Einige Kolonien haben so schon mehrere Flaschenhälse hinter sich. Kleinbestände leiden ohnehin schon zwangsläufig unter einer schleichenden Erosion der genetischen Vielfalt: Je weniger Tiere sich an der Fortpflanzung beteiligen, desto höher ist das Risiko, dass gewisse Erbanlagen nicht in die nächste Generation gelangen. Jeder Flaschenhals, durch den die Population geht, bringt einen zusätzlichen Schub abwärts. Genetische Drift nennt man diesen Prozess. Mit sinkender Genvielfalt schwindet das Entwicklungspotenzial der Art, ihre Anpassungsfähigkeit sinkt. Das sind Langzeiteffekte.

Hinzu kommen Inzuchtprobleme. Nachteilige Erbanlagen, welche in den Gründertieren einer Kolonie vorhanden waren, können sich in den nächsten Generationen ausbreiten und wirksam werden. Im Erbgut aller Tiere ist jedes Gen doppelt vorhanden – in Form eines mütterlichen und eines väterlichen Allels. Ist eines von Nachteil, spürt der Träger davon in der Regel nichts, denn das gesunde Gegenstück des anderen Elternteils kompensiert den Defekt. Doch je näher die Eltern miteinander verwandt sind, desto eher kann es passieren, dass beide Träger desselben Erbfehlers sind und das nachteilige Allel auch weitergeben. Inzucht ist vielfach mit einer Schwächung der Immunabwehr verbunden, die Tiere werden anfälliger auf Krankheiten. Ob dies auch bei einigen Schweizer Steinwildkolonien der Fall ist, wird nun im Rahmen eines vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) unterstützten Forschungsprojekts untersucht.

Genetik im Labor…

Mit molekulargenetischen Methoden bestimmt die Biologin Iris Biebach vom Zoologischen Museum der Universität Zürich anhand von Gewebeproben erlegter Tiere oder von Kotfunden den Inzuchtgrad einzelner Kolonien. Ein Glücksfall ist dabei die Tatsache, dass in den Kühlfächern des Museums noch rund 500 Gewebeproben von Steinböcken und -geissen lagern, die in den 1980er-Jahren in verschiedenen Kolonien der Schweiz gesammelt wurden. Dies ermöglicht interessante Vergleiche: Ist die genetische Vielfalt seither durch Drift merklich geschrumpft? Hat sich die Inzuchtproblematik verschärft?

In einem nächsten Schritt soll dann nach Zusammenhängen zwischen Inzuchtgrad und Populationsentwicklung gesucht werden. Falls Tiere in stark ingezüchteten Kolonien weniger fit und häufiger krank sind oder sich schlechter fortpflanzen, wäre dies ein starkes Indiz für eine genetische Ursache der zurzeit feststellbaren Probleme.

…und Populationsdynamik am Computer

Ergänzend zu den genetischen Untersuchungen wird in einem weiteren Projekt die Populationsdynamik der Schweizer Steinwildkolonien analysiert. Welches sind die prägenden Faktoren der Entwicklung? Um die Computer zu füttern, stehen sorgfältig erhobene Daten bis in die 1920er-Jahre zurück zur Verfügung. Ausgewertet werden sie im Schweizer Nationalpark unter der Leitung von Flurin Filli. Dabei interessiert nicht zuletzt auch der Einfluss der Jagd. Dies auch im Sinn einer Erfolgskontrolle: "Der Steinbock ist in der Schweiz nach wie vor eine geschützte Art", sagt Reinhard Schnidrig von der Sektion Jagd und Wildtiere im BAFU. "Das verpflichtet zu einem besonders sorgsamen Management auf Grund solider, wissenschaftlich erhobener Grundlagen." Hat man bisher alles richtig gemacht oder ist eine Anpassung der Jagdpraxis nötig?

Für sich selbst kann Cornelio Reato die erste Frage getrost bejahen. Ihm war ein Exemplar der Altersklasse E (Elfjährige und Ältere) zugeteilt, die Geiss hat er pflichtgemäss eine halbe Stunde vor dem Bock erlegt. In aufgekratzter Stimmung verlädt der Jäger seine Beute nach Abschluss der Inspektion durch die Wildhut in seinem Kombi. Ein Jagdkollege hilft ihm dabei. Der Laderaum ist zu klein, das kolossale Gehörn ragt durch die offene Türe. Die Leute bleiben auf dem Trottoir stehen, als das Auto gemächlich durch die Dorfstrasse von Bever fährt.

(TR)