Das Böhmerwald-Ökosystem im Grenzgebiet zwischen Bayern und Tschechien stellt ein außergewöhnlich vielseitiges Projektgebiet dar. Gerade die Kombination großer zusammenhängender Nationalparkflächen mit unmittelbar angrenzenden bewirtschafteten Wäldern gestattet es in einzigartiger Weise die Auswirkungen unterschiedlicher Landnutzungsformen auf die Lebensweise der Wildtiere vergleichend zu untersuchen. Seit 2017 erforschen Mitarbeiter der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) zusammen mit Kollegen der Nationalparke Bayerischer Wald und Šumava sowie dem Forstbetrieb Neureichenau der Bayerischen Staatsforsten die dort heimische Rotwildpopulation. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der raum-zeitlichen Nutzung des Lebensraums.

Mit dem Forschungsprojekt "Neue Wege zu einem grenzüberschreitenden Rotwildmanagement in Zeiten des Klimawandels" schafft die Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) gemeinsam mit ihren Partnern eine wissenschaftliche Datenbasis für ein zukunftsfähiges Rotwildmanagement in dem grenzübergreifenden Projektgebiet (Abbildung 1).

Ein angepasstes Management könnte notwendig werden, denn trotz intensiver Bemühungen die regionale Rotwildpopulation konstant zu halten wächst diese seit Jahren. Ein Grund für den Populationszuwachs ist die verbesserte Nahrungssituation aufgrund vermehrt auftretender Sukzessionsflächen in Folge von Wetterextremen und Borkenkäferbefall.

Populationsdichte und Raumnutzung

Die zuverlässige Dichteschätzung von Wildtieren gehört zu den schwierigsten Herausforderungen in der Wildbiologie. Das gilt insbesondere für Wildtiere, die in waldreichen Landschaften leben und sich kaum bemerkbar machen. In dem aktuellen Forschungsprojekt sollen daher verschiedene wissenschaftliche Methoden zur Erfassung der Rotwildpopulation vergleichend getestet werden. Die Dichteschätzungen erfolgen dabei anhand von Losungsfunden und deren genetischer Analyse (sogenannte Kotgenotypisierung), eines Kamerafallen-basierten Ansatzes sowie einer Zählung mittels Infrarotkamera aus der Luft. Für ein tragfähiges und nachhaltiges Schalenwildmanagement spielt aber nicht nur die Populationsgröße, sondern auch die Raumnutzung im Jahresverlauf eine entscheidende Rolle. Ein Teil der betrachteten Rotwildpopulation unternimmt nämlich ausgeprägte Wanderungen zwischen Sommer- und Wintereinständen. Dabei queren die Tiere nicht selten managementrelevante Grenzen – sie wechseln von Bayern nach Tschechien, aus bewirtschafteten Wäldern in einen Nationalpark oder aus einer Ruhezone des Nationalparks in intensiver bejagte Landschaftsteile.

Warum wechseln einige Tiere zwischen Sommer- und Winterstreifgebiet und andere bleiben das ganze Jahr über am gleichen Standort? Welche Faktoren beeinflussen den Migrationszeitpunkt und die Entfernung zwischen Sommer- und Winterstreifgebiet? Diese und weitere Fragen will das Forschungsprojekt beantworten.

Besenderung

Die adulten weiblichen Tiere sind die Reproduktionsträger innerhalb der Population und somit für das Forschungsvorhaben von besonderer Relevanz. Nach Genehmigung durch die höhere Veterinärbehörde an der Regierung von Niederbayern erfolgte im Winter 2017/18 die erste Besenderung von Alttieren in den Wintergattern der drei Teilbereiche des Projektgebiets. Dazu wird den Tieren ein Betäubungsmittel über einen Spezialpfeil mit Hilfe eines Luftdruck-Immobilisa­tionsgewehrs verabreicht. Wenn die narkotisierende Wirkung des Sedativs nach wenigen Minuten einsetzt, hat das Rudel mit dem sedierten Stück die Fütterung meist schon wieder verlassen. Für das Auffinden der zukünftigen Halsbandträgerin kommen sogenannte "Senderpfeile" zum Einsatz. Diese verbleiben mit der Kanüle, über welche das Medikament injiziert wird, am Tier und senden ein Signal, das geortet werden kann. So ist es möglich, das getroffene Tier schnell aufzufinden ohne das übrige Rotwild im Gatter zu stören. Die Versorgung direkt am Tier dauert nur wenige Minuten. Dabei wird das Senderhalsband angelegt und eine Ohrmarke angebracht. Diese bleibt später auch nach der Abnahme des Senders am Tier. Das Tier wird vermessen sowie eine Alters- und Gewichtsschätzung vorgenommen. Für einen genetischen Abgleich mit den bereits erwähnten Losungsproben wird zusätzlich eine Haarprobe entnommen. Nachdem das Tier komplett versorgt worden ist, wird der Aufwachprozess aus der Ferne überwacht.

Im Rahmen des Projekts wurden insgesamt über 70 Tiere besendert. Das Senderhalsband ermittelt einmal stündlich die Position des Tiers und speist die Positionsdaten per Mobilfunk direkt in eine Datenbank ein. Zusätzlich legt es die Daten auf dem internen Speicher des Halsbands ab. Die Batterie versorgt das Halsband zwei Jahre lang mit Energie. Das Ablösen des Halsbandsenders erfolgt über einen sogenannten Drop-Off-Mechanismus. Dieser kann per Funk aus wenigen 100 m Entfernung ausgelöst werden und bewirkt das Öffnen und Abfallen des Halsbands.

Aufbereitung der Positionsdaten

Um das Migrationsverhalten der Tiere zu untersuchen, werden die erhobenen Daten aus dem Zeitraum 2018–2020 gemeinsam mit Altdaten aus vorangegangenen Telemetrieprojekten (Zeitraum 2002–2013) aus den beiden Nationalparken ausgewertet. Zunächst erfolgte die Klassifizierung der Tiere in migrierende oder residente Tiere, also Tiere, die kein saisonales Migrationsverhalten zeigen (Damiani et al. 2015, Abbildung 4). Mit standardisierten Analysemethoden werden die Positionsdaten der migrierenden Tiere einem Sommer- und Winterstreifgebiete zugeordnet und der Zeitpunkt der Frühjahrs- bzw. Herbstmigration festgestellt. Unterschiede im Migrationsverhalten zwischen den drei Teilgebieten "Forstbetrieb Neureichenau", "Nationalpark Bayerischer Wald" und "Nationalpark Šumava" können dann statistisch verglichen werden. Außerdem lassen sich durch den Abgleich der Altdaten mit dem aktuellen Datensatz zeitliche Verschiebungen im Migrationsverhalten darstellen.

Winter im Forstbetrieb – Sommer im Nationalpark

Zählungen zufolge überwintern in den beiden Gattern des Forstbetriebs Neureichenau seit dem Winter 2005/06 mehr oder weniger konstant 235 (± 31) Tiere. Elf der 14 besenderten Tiere aus diesen Gattern (= 79 %) zeigen Migrationsverhalten (Abbildung 5). Als Sommerstreifgebiet dient fünf dieser Tiere die Grenzregion zwischen dem Forstbetrieb Neureichenau und dem Nationalpark Šumava, während sechs Tiere deutlich weiter in nordnordwestliche Richtung migrieren und den Sommer im Nationalpark Bayerischer Wald oder in der Grenzregion zwischen den beiden Nationalparken verbringen. Damit unterscheidet sich das Migrationsverhalten der Alttiere aus dem Forstbetrieb statistisch signifikant von dem der Tiere aus dem Nationalpark Bayerischer Wald.

Der Zeitpunkt der Frühjahrsmigration ist in allen Teilgebieten an die Öffnung der Wintergatter gekoppelt, während der Beginn der Migration im Herbst von Umweltfaktoren und menschlichen Einflüssen bestimmt wird. Der mittlere Migrationszeitpunkt der Alttiere in die Wintergatter des Forstbetriebs fällt auf den 9. Dezember (± 12 Tage). Etwas früher (21. November ± 27 Tage) migrieren heute die Alttiere in die Gatter des Nationalparks Bayerischer Wald. Die Altdaten aus dem Nationalpark Bayerischer Wald belegen dagegen teils frühere Migrationen mit einem mittleren Migrationsdatum schon am 25. Oktober, aber auch einer breiten Streuung von ± 48 Tagen. Im Nationalpark Šumava konnte dagegen keine Verschiebung der Migration festgestellt werden. Die beiden migrierenden Tiere im Altdatensatz brachen erst am 19. und 28. Januar in Richtung Winterstreifgebiet auf. Der mittlere Migrationszeitpunkt im aktuellen Datensatz fällt auf den 14. Dezember (± 30 Tage).

Gründe für die Variabilität im Migrationsverhalten und Ausblick

Mögliche Gründe für die Variabilität im Migrationsverhalten sind vielfältig und sollen im Rahmen der weiteren Analysen des laufenden Projekts untersucht werden. Entscheidende Faktoren könnten jedoch die klimatischen Verhältnisse sein. Sabine et al. (2002) zeigten, dass einsetzender Schneefall und fallende Temperaturen Migrationsbewegungen bei Schalenwild auslösen. Bedingt durch den voranschreitenden Klimawandel, setzen die ersten Schneefälle heute später im Jahr ein und Temperaturen fallen nicht mehr in dem Maße, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten üblich war. Eine später einsetzende Migration, wie bei den Tieren aus dem Nationalpark Bayerischer Wald beobachtet, ist daher nicht verwunderlich. Für Tiere aus dem Nationalpark Šumava kann eine solche zeitliche Verschiebung des Migrationszeitpunkts jedoch nicht beobachtet werden. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass eine bestehende Verschiebung aufgrund der schlechteren Datenlage – im Altdatensatz aus Tschechien konnten lediglich zwei Tiere als Migranten klassifiziert werden – nicht detektiert werden kann. Auch könnten Managementmaßnahmen, wie beispielsweise der Beginn der Wintergatterfütterung oder die Bejagung, den Migrationszeitpunkt beeinflussen.

Neben den klimatischen Verhältnissen beeinflusst auch das Nahrungsangebot sowohl die Migrationswahrscheinlichkeit als auch den Migrationszeitpunkt. Insbesondere in den offenen, von Wiesen geprägten Bereichen entlang des Grenzstreifens zwischen Bayern und Tschechien findet das Rotwild ein gutes Nahrungsangebot. Aber auch Waldbestände, die von den Sturmtiefs "Kyrill" und "Kolle" oder durch Borkenkäferbefall beeinträchtigt wurden, sind insgesamt heterogen strukturiert und bieten sowohl ein günstiges Nahrungsangebot als auch Deckung. Neben den Witterungsverhältnissen kann sich auch die jagdliche Nutzung auf das Migrationsverhalten von Rotwild auswirken. Mit Ausnahme von ausgewiesenen Zonen in den Nationalparken ist die Jagd auf Rotwild während der Herbstmigration auf beiden Seiten der Grenze gestattet.

Im Rahmen der weiteren Analysen sollen nun die Faktoren, welche die Migrationswahrscheilichkeit, zeitliche Aspekte der Migration sowie die Migrationsdistanz beeinflussen, untersucht werden. In die weiteren Auswertungen fließen zum Beispiel ein Schneemodell für das Projektgebiet, das landschaftliche Höhenprofil, die Vegetationsentwicklung sowie menschliche Einflussfaktoren wie Tourismus und Bejagung ein.

Die wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnisse zu dem Migrationsverhalten der Tiere sollen den Verantwortlichen in der Region zur Verfügungen gestellt werden und so einen wichtigen Beitrag zu einem zukunftsfähigen und grenzübergreifenden Rotwildmanagement leisten. Ein raum-zeitlich angepasstes Schalenwildmanagement könnte dazu beitragen, die wachsende Rotwildpopulation auch zukünftig so zu regulieren, dass die verschiedenen Interessen und Belange von Naturschutz, Tourismus, Land- und Forstwirtschaft sowie Jagd ausgewogen berücksichtigt werden.

Zusammenfassung

Im Projekt "Neue Wege zu einem grenzüberschreitenden Rotwildmanagement in Zeiten des Klimawandels" untersucht die LWF zusammen mit ihren Partnern unter anderem das saisonale Migrationsverhalten von Rotwild im Böhmerwald-Ökosystem. Trotz noch laufender Untersuchungen zeichnet sich bereits jetzt ab, dass sich Unterschiede in Lebensraumausstattung und Management auf das Migrationsverhalten des Rotwilds auswirken können. Deutlich wird dies besonders am Verhalten der Tiere, die in den Gattern des Forstbetriebs überwintern. Diese unternehmen teils weite Wanderungen in ihre Sommerstreifgebiete entlang der Landesgrenze. Im Nationalpark Bayerischer Wald ist eine Verschiebung des mittleren Migrationszeitpunkts von Oktober (Altdaten) in den November (heute) zu beobachten. Die Ursache könnten klimatische Veränderungen sein. Die im Rahmen des Projekts gewonnen Erkenntnisse sollen einen Beitrag für ein zukunftsfähiges, grenzübergreifendes Rotwildmanagement leisten.

Das Projekt wird durch das Programm zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit Freistaat Bayern – Tschechische Republik "Ziel ETZ 2014–2020" gefördert und durch das Bayerische Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz kofinanziert