Zurück zur ursprünglichen Vielfalt

Naturnahe Gewässer im Wald sind Lebensadern für vielfältige gewässertypische Lebensgemeinschaften. Deshalb sind Erhalt und Aufwertung naturnaher Bäche im Wald notwendig, Für den Schutz und die Wiederherstellung ökologisch funktionsfähiger Gewässersysteme nach der Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) ist die strukturelle Beschaffenheit der Gewässer (Gewässermorphologie) ein wichtiges Qualitätsmerkmal. Deshalb arbeiten Forschende der FVA daran, Waldbäche in Baden-Württemberg wieder in einen guten ökologischen Zustand zu bringen. Sie tragen entscheidend dazu bei, Waldgewässern und deren Ufern ihre ursprüngliche Vielfalt zurück zu geben. 
Für Gewässerabschnitte fern eines natürlichen Bachlaufs ist die Erhebung der Gewässerstruktur ein nützliches Werkzeug zur Prüfung einer möglichen ökologischen Aufwertung. Zwei Verfahren werden hier vorgestellt: die Gewässerstrukturkartierung und die Einzelstruktur-Kartierung (Estruka-Verfahren) für Fließgewässer im Wald.

Gewässerstrukturkartierung

Als standardisiertes Maß für die naturraumtypische Vielfalt von Fließgewässerstrukturen dient seit Ende der 90er Jahre das Verfahren der Länderarbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) zur Strukturgüteklassifikation. Die Gewässerstrukturkartierung untersucht neben dem Fließgewässer auch dessen Ufer und Umfeld (Aue). Erfasst wird, wie sich die aktuelle Struktur des Gewässers vom natürlichen Zustand unterscheidet. Grundlage für den natürlichen Zustand des jeweiligen Gewässertyps ist ein sogenanntes Leitbild, welches das vom Menschen unbeeinflusste natürliche Gewässer beschreibt. Beim Vergleich zwischen aktuellem und natürlichem Zustand fließen verschiedene Parameter in die Bewertung ein: Laufentwicklung, Längsprofil, Querprofil, Sohlenstruktur, Uferstruktur und Gewässerumfeld. Das LAWA-Kartier-Verfahren (LAWA 2000) bezieht sich, je nach Gewässerbreite, auf 50 bis 100 Meter lange Abschnitte. Zu jedem Abschnitt werden 25 Einzelparameter erhoben und in Bezug auf das Leitbild bewertet. Dieses Verfahren ermöglicht es, Gewässerläufe mit hoher Reproduzierbarkeit zu erfassen und zu bewerten. Die Ergebnisse werden in einer Skala von 1-unverändert bis 7-vollständig verändert dargestellt (Abb. 1 links).

In Baden-Württemberg wurden zwischen 2011 und 2014 ca. 14.400 km Gewässerstrecke nach dem Verfahren der Gewässerstrukturkartierung der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) bewertet (Abb. 1 rechts). Die aktuellste Auswertung im Jahr 2020 ergab, dass die Strukturklassen „deutlich“ und „stark verändert“ mit insgesamt 41,8 % den größten Anteil an den Gesamtbewertungen ausmachen. 29,6 % der Gewässerabschnitte sind in den Strukturklassen 1 bis 3.

Bei der landesweiten Kartierung wurden die Fließgewässer untersucht, die im Teilnetz der Wasserrahmenrichtlinie sind, also ein Einzugsgebiet größer als 10 km² haben. Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse der Gewässerstrukturkartierung 2017 am Beispiel der Bäche Girrbach und Eyach. An den erhobenen Gewässerabschnitten lässt sich ablesen, wo Verbesserungsbedarf besteht und welche naturnahen Abschnitte als Trittsteine zur Wiederbesiedelung dienen könnten. 

Viele Oberläufe im Wald mit einem Einzugsgebiet unter 10 km² wurden hier nicht erhoben. Aber auch für sie gelten die WRRL-Ziele – Erhalt und Wiederherstellung eines guten ökologischen und chemischen Zustands.
Die nicht erhobenen Gewässerabschnitte stellen wichtige Refugien für Fließgewässerorganismen dar. Aufbauend auf dem LAWA-Kartier-Verfahren hat die FVA eine einfache Methode entwickelt, die auf die Besonderheiten von Gewässerläufen im Wald zugeschnitten ist – die EstruKa-Kartierung.

EstruKa-Kartierungsanleitung

Diese Methode beschränkt sich auf die Aufnahme von Einzelobjekten, welche die Durchgängigkeit oder Lebensraumqualität an Waldbächen beeinflussen (siehe  Fließgewässer im Wald).
Aufgrund ihrer höheren ökologischen Qualität bieten Fließgewässer im Wald, verglichen mit denen in freier Landschaft und in der Stadt, günstigere Voraussetzungen, den von der EU-WRRL verlangten "guten ökologischen Zustand" zu erreichen. Um  einschätzen zu können, wo der größte Renaturierungsbedarf im Wald besteht und wo wirkungsvolle ökologische Aufwertungen möglich sind, wurde ein vereinfachtes Verfahren zur Erfassung von Gewässerbeeinträchtigungen speziell für Waldbäche entwickelt.

Fließgewässerstrecken in dünn besiedelten waldreichen Mittelgebirgsregionen, sind oft weitgehend naturnah. Diese Waldbäche erfüllen die Grundvoraussetzungen für gewässertypische Lebensräume einer Vielzahl wassergebundener Arten. Problematisch ist in diesen Bächen in erster Linie die fehlende Durchwanderbarkeit. Mit ansonsten gutem Strukturzustand, sind Wanderungsbarrieren für Fließgewässerorgansimen hier besonders häufig – ihr Lebensraum ist zerstückelt.

Zwar sind Waldbächen von erheblichen Veränderungen wie Begradigungen und Kanalisierungen, wie sie in Siedlungsnähe zu finden sind, weitestgehend verschont, dennoch sind sie massiv zerschnitten vom dichten Wegenetz. In den Wäldern Baden-Württembergs liegt deutschlandweit die höchste Erschließungsdichte vor, mit 76.000 km Waldwegen und 96.000 km Maschinenwegen und Rückegassen. Eine Untersuchung der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt zeigt, dass der durchschnittliche Waldbach auf einen Kilometer Laufstrecke 2,7 Querverbauungen enthält, die potenziell Wanderungshindernisse für Fließgewässerorganismen bedeuten.

Um das Potenzial von Waldbächen besser auszuschöpfen, bei denen schon mit relativ geringem Aufwand viel bewirkt werden kann, wurde ein vereinfachtes Verfahren zur Erfassung von Gewässerbeeinträchtigungen entwickelt: die EstruKa. Die Gewässerstrukturkartierung EstruKa-FVA dient dazu, einzuschätzen, wo der größte Renaturierungsbedarf an Bächen im Wald besteht. Sie unterscheidet sich von dem sonst in Baden-Württemberg genutzten Feinverfahren Gewässerstrukturkartierungvor allem darin, dass hier der Fokus auf Wanderungsbarrieren im Fließgewässer und auf der Vegetation im Gewässerrandstreifen liegt. Dies spiegelt eine Anpassung an die besonderen Umstände in und an Waldbächen wieder. Die zu erfassenden Objekte sind in Grafik Abbildung 3 veranschaulicht.

Zweiteilige Dokumentation nach EstruKa-FVA

Das Aufnahmeverfahren zur Einzelstruktur-Kartierung EstruKa-FVA besteht aus: 

  1. Erfassung von von natürlichen und künstlichen Gewässer- und Umfeldstrukturen
  2. Erfassung der Naturnähe von Waldbeständen im Gewässerumfeld und von Referenzflächen der Waldbiotopkartierung (WBK)

Teil 1: Erfassung von Gewässer- und Umfeldstrukturen 

Ziel des Verfahrens EstruKa-FVA ist es, Gewässer- und Umfeldstrukturen, die potenziell schädlich für ein Fließgewässer sein können, einheitlich zu dokumentieren und im Hinblick auf geplante Renaturierungsmaßnahmen zu bewerten. Beispielsweise lässt sich prüfen, wie wirkungsvoll eine Maßnahme zur Wiederherstellung der Durchgängigkeit ist. Befindet sich unterhalb einer künstlichen Wanderungsbarriere eine natürliche Struktur, welche die Ausbreitung von Organismen ohnehin verhindert, wäre eine Umbaumaßnahme an dieser Stelle weniger effektiv. 
Die Strukturen werden in Arbeitskarten eingetragen und jeweils Angaben zum baulichen Zustand und zur Priorität von Maßnahmen erhoben – eingestuft jeweils in 3 Klassen und 5 Klassen. Die Priorität gibt an, wie dringlich Maßnahmen am betreffenden Objekt sind, um seinen ökologischen Zustand zu verbessern.

Teil 2: Erfassung der Naturnähe von Waldbeständen im Gewässerumfeld

Mit dem EstruKa-FVA-Verfahren werden in Sohlentälern, gekennzeichnet von einer breiten Talsohle und einem kastenförmige Tal, alle Waldbestände innerhalb der Talaue erfasst (Abb. 5). Bei Kerbtälern, wo keine Talsohle entwickelt ist, wird das Gewässerumfeld aufgenommen. Das Gewässerumfeld – ein 25 m breiter Streifen beidseitig des Gewässerlaufs – entspricht der Durchschnittshöhe eines ausgewachsenen Baumes. Teile des Stammes oder der Krone eines umstürzenden Baumes können an oder in das Gewässer fallen. Bäume bis zu dieser Entfernung vom Ufer zählen damit noch zum Gewässerumfeld mit potenziellem Einfluss auf die Gewässerstruktur.

Teil 2 des Verfahrens wurde bewusst von dem anwenderfreundlicheren Teil 1 separiert. Die Naturnähe von Waldbeständen im Gewässerumfeld erfassen zu können erfordert einerseits, die potenzielle natürliche Vegetation (pnV) abhängig von kleinräumigen standörtlichen Wechseln zu kennen (Abb. 6). Andererseits ist eine Geländebegehung nötig, um die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort zu prüfen. Eine Übersicht der potenziellen natürlichen Vegetation in Baden-Württemberg ist auch im interaktiven Dienst UDO (Umwelt-Daten und -Karten Online) dargestellt. 
Die Bewertung weist drei Naturnähe-Stufen aus. Maßgebend für die Einstufung ist der prozentuale Anteil der pnV-Baumarten an der Kronenschicht eines Bestandes. Unter "Bestand" werden Waldbestände zusammengefasst, die nach der Baumarten-Zusammensetzung in der Kronenschicht eine Einheit bilden. Ein Bestand mit sehr hohem Anteil gebietsfremder Nadelbaumarten, besonders Fichte (Picea abies) und Douglasie (Pseudotsuga menziesii), wird als naturferner Nadelholzbestand gesondert ausgewiesen.

Auswertung der EstruKa

Die Auswertung der erhobenen Daten erfolgt tabellarisch z. B. mit MS Excel und durch Darstellung der Gewässer- und Umfeldstrukturen sowie der Wälder im Gewässerumfeld in digitalen Karten. Hinweise zur Darstellung in Karten enthält Anlage 1.

Die Anlage können unter den nachfolgenden Links als PDF-Dateien heruntergeladen werden: