Noch steht der Forst im winterlich-düsteren Kleid, die Baumkronen sind blattlos und nackt. Doch der äussere Eindruck täuscht: Auf dem sonnenbeschienenen Waldboden ist längst der Frühling ausgebrochen. Bevor das Laub austreibt und das Blätterdach den grössten Teil des Sonnenlichtes schluckt, müssen die hier unten lebenden Pflanzen ihr Fortpflanzungsgeschäft erledigt haben. Doch wer hat ihnen das Zeichen für den kraftvollen Start gegeben? Und woher nehmen sie die dafür nötige Energie?

Erst gerade war noch tiefer Winter. Und plötzlich leuchten in den Gärten Primeln aller Farben, violettblaue Traubenhyazinthen und Blausterne bilden attraktive Kontraste, Osterglocken und Tulpen stehen in voller Pracht. Die Winterlinge, Krokusse und Märzenbecher sind bereits verblüht. Der Frühling ist eingezogen, könnte man meinen – wäre da nicht der winterliche Aspekt der Landschaft, der nicht weichen will. Schuld daran sind die Laubbäume. Bevor sie nicht ihr frischgrünes Kleid übergestreift haben, bleibt der Wald von weitem braun und düster, die Feldgehölze nackt und winterlich.

Dieser Eindruck täuscht: Auch im Wald herrscht Aufbruchstimmung. Wie aus dem Nichts hat das Buschwindröschen seine weissgrünen Teppiche auf dem besonnten Boden ausgebreitet, die durchsetzt sind mit Büscheln von Waldschlüsselblumen und einzelnen Lungenkräutern. Weniger auffällig, doch ebenfalls in grossen Beständen blüht das Wald-Bingelkraut, der Hohlknollige Lerchensporn steht im purpurnen Gewand. Bald werden in Weiss die Dolden vom Bärlauch und die zarten Maiglöckchen hinzukommen und in Violett die verschiedenen Veilchen. So farbig wie jetzt wird der Waldboden im Jahresverlauf nie mehr sein.

Vor dem Laubaustrieb

Man wundert sich, woher diese zarten Pflänzchen, von denen zuvor monatelang rein gar nichts zu sehen war, nun plötzlich die Energie haben, um mit voller Kraft Blüten und Blätter aus der Erde zu treiben. Das Geheimnis muss unter der Erde liegen. Und tatsächlich: Hier lagern in saftigen Zwiebeln und dicken Rhizomen Vorräte, welche die Pflanzen während der letzten Vegetationsperiode angelegt haben. So geschützt im Boden haben sie die kalte Jahreszeit gut überstanden. Jetzt, wo genügend Licht zum Boden gelangt, wird geblüht, gefruchtet und Photosynthese betrieben – und bereits wieder der Energievorrat für das nächste Jahr vorbereitet. Schon ab dem Sommer werden sich diese Pflanzen wieder aufs unterirdische Dasein konzentrieren. Wer hingegen keine Speicherorgane besitzt, hat es schwer im Wald. Entsprechend gering ist hier die Zahl der einjährigen Kräuter, die nur als Samen überdauern. Sie haben zuwenig Reserven, um in der kurzen optimalen Zeit die nötige Energie für den gesamten Lebenszyklus aufzubringen. Nicht nur am Waldboden, sondern auch in den Baumkronen ist um diese Jahreszeit viel los. Hier oben blühen, unscheinbarer aber genauso entschlossen, die windbestäubten Bäume wie Buche, Hainbuche und Eiche, Esche, Fichte, Tanne und Waldföhre. Denn wenn die Pollenkörner weit fort getragen werden sollen, müssen sie losgeschickt werden, bevor das Laub Wind und Pollenflug behindert.

Das Lichtangebot ist entscheidend

Licht ist ein besonders wichtiger Faktor für den Blütenreichtum im Wald. Zwar gibt es auch schattentolerante Pflanzen, die im Sommer im vollbelaubten Wald zur Blüte gelangen wie die Goldnessel, der Waldziest, der Sauerklee, die Zweiblättrige Schattenblume, die Gemeine Waldrebe oder auch Farne und Moose. Der Efeu blüht gar erst im Herbst. Wieder andere sind schon im Januar anzutreffen: das Leberblümchen etwa, der Echte Seidelbast mit seinen wohlriechenden, zartrosa Blüten und die Stinkende Nieswurz mit Büscheln von gelbgrünen Blütenglocken.

Die Nieswurz hat sich etwas Besonderes einfallen lassen, um Besuchern in der kalten Jahreszeit ein angenehmes Ambiente zu bieten. In ihren Nektargefässen bauen Hefepilze den Nektarzucker ab und sorgen so dafür, dass es in der Blüte bis zu sechs Grad wärmer ist als ausserhalb. Potenzielle Bestäuber – meist Hummeln, die auch bei niedrigen Temperaturen fliegen – können sich bei der Stinkenden Nieswurz also nicht nur am Nektar bedienen, sondern auch die Beinchen wärmen. So richtig farbenprächtig wird es im Wald nur, wenn die Pflanzen in den Genuss von ausreichend Licht kommen. Das ist im Frühling der Fall, wenn das Sonnenlicht ungehindert durch die kahlen Äste dringt. Später im Jahr ist das Lichtangebot insbesondere entlang von Wegen, am Waldrand, in lichten Wäldern oder Schlagflächen gross. Werden diese Elemente gefördert, erhöht sich das Blütenangebot und somit die Biodiversität im Wald. So ist die ganze Saison über eine grosse Vielfalt von blühenden Pflanzen im Wald anzutreffen.

Das reiche Blütenangebot lockt unzählige Bestäuber wie Schwebfliegen, Käfer und Bienen an, aber auch zahlreiche andere Insekten wie Schmetterlinge, die auf und von diesen Arten leben.

Pflanzen im Einklang mit der Umwelt

Tiere können sich fortbewegen, um nach Nahrung, Unterschlupf oder einem Partner zu suchen. Pflanzen hingegen müssen sich, einmal verwurzelt, ihr Leben lang mit den vorherrschenden Bedingungen am Ort herumschlagen. Sie haben nicht nur erstaunliche Fähigkeiten entwickelt, sich an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen; sie können sich auch im Voraus für kommende ungünstige Bedingungen wappnen.

Ungünstige Bedingungen herrschen in unseren Breitengraden im Winterhalbjahr. Da ist es kalt, es ist wenig Licht vorhanden und wegen des gefrorenen Bodens steht kaum Wasser zur Verfügung. Die Pflanzen überdauern diese Zeit in einem Ruhestadium. Die meisten Bäume werfen im Herbst vorsorglich die Blätter ab, damit sie während des Winters nicht unnötig Wasser verlieren. Die empfindlichen Vegetationspunkte, wo sich die teilungsfähigen Zellen befinden, sind in Knospen geschützt, die bereits im Sommer angelegt wurden. Andere Arten – die sogenannten Geophyten – überdauern die kalte Jahreszeit im Boden. Zu ihnen gehören die meisten Frühblüher, die ihre im Vorjahr angelegten Vorräte mobilisieren, sobald die Bedingungen günstig sind. Wieder andere haben ihren ganzen Lebenszyklus in der warmen Jahreshälfte abgewickelt. Von ihnen überleben nur die Samen; der Rest der Pflanze stirbt vollständig ab.

Frühlingserwachen

Allesamt erwachen sie im Frühling. Dieses Erwachen gleicht einem Konzert, bei dem ein Musiker nach dem andern hinzukommt und zum Gesamtwerk beiträgt, keiner vergisst seinen Einsatz. Doch wie wissen die Pflanzen, wann der günstige Austrieb- und Blühzeitpunkt gekommen ist? Wer ist der Dirigent? Wäre es allein die Lichtintensität oder die Tageslänge, würden die Pflanzen auch im Spätherbst nach dem Laubfall blühen, denn zu dieser Zeit sind die Verhältnisse ähnlich. Ist es vielleicht die Temperatur? Auch sie dürfte nicht allein entscheidend sein, sonst würde der Blütenreigen in winterlichen Wärmeperioden regelmässig zu früh losgehen. Die Lösung liegt darin, dass die Pflanze die Signale von aussen mit inneren Steuerungsfaktoren kombiniert. Ein besonders wichtiges äusseres Zeichen ist die tägliche Belichtungszeit. Sie bestimmt, ob die Pflanze vom Ruhe in den Aktivzustand wechselt. Solange die Pflanze dazu nicht bereit ist, passiert nichts. Grob lassen sich drei Strategien unterscheiden: Langtagpflanzen, Kurztagpflanzen und tagneutrale Pflanzen. Langtagpflanzen kommen an langen Tagen zur Blüte, sofern zuvor kurze Tage herrschten. Kurztagpflanzen blühen, wenn nach langen Tagen die Tageslänge unter eine kritische Schwelle fällt.

Auf diese Zusammenhänge stiessen Forschende schon vor mehr als hundert Jahren, als sie das Blühverhalten von Kulturpflanzen studierten. Sie stellten auch fest, dass nicht etwa die Länge des Lichteinfalls, sondern die Länge der anhaltenden Dunkelperiode darüber entscheidet, ob eine Pflanze zur Blüte kommt oder nicht. Offenbar verfügen Pflanzen über einen Rezeptor, welcher die Tageslänge misst. 1938 konnten Karl C. Hamner und James Bonner zeigen, dass es die Blattspreite ist, welche die Tageslänge registriert. Doch wie kommt die Information über die Tageslänge zu den Zellen, welche die Blüte auslösen? Schon 1865 hatte Julius Sachs vermutet, dass Blätter, die dem Licht ausgesetzt sind, einen Stoff produzieren, der den im Erdreich schlummernden Sprossspitzen das Signal zur Blütenknospenbildung gibt. Die Suche nach diesem Stoff – er erhielt den Namen "Florigen" (Blütenbildner) gestaltete sich schwierig. Erst kürzlich konnte das Florigen analysiert werden: Es handelt sich um ein kleines Protein. Experimente mit einem fluoreszierenden Anhängsel zeigten tatsächlich, dass dieser Botenstoff von den Blättern zu den Knospen wandert.

Ein Hemmstoff sorgt dafür, dass die Knospen nicht bei erstmals guten Bedingungen austreiben und dann Gefahr laufen zu erfrieren. Erst wenn er abgebaut ist, kann die Blühzeit beginnen. Der Abbau des Hemmstoffs wird von aussen gesteuert. So brauchen viele Pflanzen eine Kälteperiode, bevor sie ihre Knospenruhe brechen. Zwiebeln von Tulpen, Hyazinthen oder Narzissen lassen sich zwar in der warmen Wohnung zur Blüte bringen – aber nur dann, wenn sie vorher an einem kalten Ort gelagert wurden.

Kirschbaumzweige, die am 4. Dezember (St. Barbaratag) geschnitten werden, blühen zu Weihnachten. Werden sie vor diesem Zweitpunkt geerntet, kommen sie nicht zur Blüte, da die Kälteperiode nicht ausreichte, um den Hemmstoff abzubauen. Wärme wiederum beschleunigt das Austreiben und Blühen vieler Arten wie dem Buschwindröschen oder der Waldschlüsselblume.

Optimale Anpassung, individuelle Lösungen

Auch wenn der Blütenreigen im Frühling den Eindruck erweckt, es sei ein einziger Paukenschlag – die fein abgestimmten Mechanismen dahinter sind komplex und bei jeder Art einzigartig. Jede hat ihren eigenen Weg gefunden, um sich an die Umweltbedingungen am Wuchsort optimal anzupassen. Je mehr man darüber weiss, desto mehr staunt man, wie das grosse Blühen jedes Jahr von neuem klappt.