Prof. Dr. Ulrich Kohnle, Leiter der Abteilung Waldwachstum der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (FVA) blickt auf dieses Ereignis und darauf, was die Wissenschaft daraus lernen konnte, zurück.
Herr Kohnle, Sie forschen schon seit 21 Jahren an der FVA und leiten die Fachabteilung für Waldwachstum. Wie erinnern Sie ganz persönlich die Ereignisse vom 26. Dezember 1999?
Bevor ich an die FVA kam, war ich Forstamtsleiter im Forstbezirk Blaustein. Das liegt zwischen Ulm und Blaubeuren. Da hat mich am zweiten Weihnachtstag 1999 Lothar überrascht. Wir saßen nachmittags zum Kaffee mit Bekannten im Forstamt zusammen. Von dort aus konnten wir aus dem Fenster auf einen wellblechgedeckten Schafstall schauen. Der Wind rüttelte am ganzen Haus und dann dauerte es nicht lange, bis das Dach des Stalls angehoben wurde und auf die Wiese flog. Anschließend kamen auch die Dachziegel des Forstamts runter. Da dachte ich mir schon: Da ist was los. Am nächsten Tag habe ich versucht – es war ja Weihnachtspause – meine Revierleiter anzurufen. Der erste, den ich ans Telefon bekommen habe, war der Kollege aus Merklingen. Den habe ich dann gefragt, wie es in seinem Wald aussieht. Der sagte mir dann: „Herr Kohnle, ich kann es Ihnen nicht sagen, ich komme da gar nicht rein.“ Da war mir klar, da ist ganz, ganz viel los.
Wann gab es für Sie dann diesen Moment, in dem Sie die tatsächlichen Ausmaße der Schäden im Wald gesehen haben?
Zuerst habe ich versucht, keine Hektik zu verbreiten und die Kollegen darum gebeten, die Straßen freizuräumen. Danach hat es vielleicht eine Woche gedauert, bis wir allmählich einen Überblick bekommen haben.
Blaustein lag damals nicht im Zentrum des Sturmes, sondern eher im östlichen Teil der Sturmbahn, die bekanntlich aus Westen auf Baden-Württemberg traf. Wir wussten dann relativ schnell, dass viel Holz im Wald herumlag – sicherlich das Zwei- bis Dreifache des normalen Hiebsatzes. Wir mussten relativ schnell feststellen, dass die Ressourcen, die uns für die Aufräumarbeiten zu Verfügung standen, sehr begrenzt waren: Erstens gab es zu wenige Waldarbeiter, dazu hatte wir zu wenige Schlepper da, um das Holz rauszuziehen. Zum Glück bekamen wir tatkräftige Unterstützung durch verschiedene Forstunternehmen. Darunter auch ein bayrischer bäuerlicher Familienbetrieb mit drei Schleppern, die von Mutter, Vater und Sohn gefahren wurden.
Ende 2000 war in Blaustein der Holzeinschlag dann größtenteils aufgearbeitet. Als der Laden wieder gut aufgeräumt war, bin ich dem Ruf der FVA gefolgt und habe das Forstamt Blaustein verlassen.
Wo wir auch schon bei der Wissenschaft wären: Wie sind in diesen Kreisen die Auswirkungen des Orkans unmittelbar danach bewertet worden?
Der große Vorteil war, dass Lothar kein einmaliges Ereignis war. Knapp zehn Jahre vorher waren mit den Stürmen Vivian und Wiebke schon einmal ähnliche Schäden passiert. Die große Frage war – abgesehen vom Aufarbeiten und Lagern des Holzes – wie wir die Wälder wieder in eine ordentliche Bewaldung bekommen. Bei Vivian und Wiebke hatte man noch schnell viel Aufforstungen, also Pflanzungen, gemacht, und später festgestellt, dass man mit Hosenträger und Gürtel gleichzeitig gearbeitet hatte. Es gab also Naturverjüngung und Pflanzungen. Das war eine der ersten Sachen, die wir nach Lothar zügig umgestellt haben. Dass man nicht mehr gesagt hat: Überall, wo die alten Bäume weg sind, wird gleich gepflanzt, sondern man kann auf den meisten Standorten erst einmal zwei bis drei Jahre warten und schauen, was schon da ist. Viel sieht man nach so einem Sturmschaden zunächst nämlich gar nicht. Die Bäumchen sind da meist noch zu klein oder liegen unter dem Schlagabraum.
Deshalb hat man das bei Lothar im Gegensatz zu Vivian/Wiebke konsequent umgestellt. Nach diesen zwei bis drei Jahren Wartezeit hat man dann – in der sogenannten Revision Wiederbewaldung – die Kolleginnen und Kollegen im Revierdienst landesweit rausgeschickt, um systematisch abzuschätzen: Ist genügend Verjüngung da, sind es die richtigen Baumarten oder muss man noch etwas dazu pflanzen? Das Ergebnis sah dann so aus, dass auf satt der Hälfte der Flächen die Naturverjüngung völlig ausreichte. Erst im Anschluss an diese Revision hat man dann in größerem Umfang angefangen, auf den Flächen mit Fehlstellen gezielt nachzupflanzen.
Im Nachhinein würde ich sagen: Das, was man bei Vivian und Wiebke mit Aktivität übertrieben hat, wurde dann bei Lothar ein bisschen untertrieben. Wenn es das nächste Mal bläst, machen wir irgendwas zwischen Lothar und Vivian/Wiebke und kommen dann insgesamt besser raus.
Herausforderungen sind ja auch immer wieder Anlässe, umzudenken. Daher die Frage: Gab es, abgesehen von den großen Mengen Holz, die es aufzuarbeiten galt und dem großen wirtschaftlichen Schaden für viele Waldbesitzende, damals auch „positive“ Folgen für Wald und Forschung? Wenn ja, wie sahen diese aus?
Für die Forschung gab es super positive Folgen. Einer der seltenen Glücksfälle war, dass Lothar mit der Bundeswaldinventur praktisch zusammengefallen ist. Die Stichprobenpunkte der Bundeswaldinventur waren in Baden-Württemberg direkt vor Lothar aufgenommen worden. Die Abteilung für Biometrie und Informatik der FVA hat dann dafür gesorgt, dass die Stichprobenpunkte direkt nach Lothar gleich noch einmal kontrolliert wurden. Anhand dieses Datensatzes konnte man dann sehen, welche Bäume der Sturm landesweit umgeworfen hatte. Für die Wissenschaft ist das natürlich sensationell. Interessant war dabei natürlich die Frage nach den Hauptfaktoren, warum die Bäume umgefallen sind.
Wir haben intensiv geschaut, welche Faktoren entscheidend waren. Drei davon fielen dabei besonders ins Gewicht.
Erster Faktor ist: Wie stark bläst der Sturm? Keine Überraschung.
Zweiter Faktor ist die Baumart. Es gibt eben Baumarten, die sind stärker gefährdet. Und da die großflächigen Starkstürme meteorologisch bedingt eigentlich ausschließlich immer im Winter blasen, sind es vor allem die Nadelbäume mit ihren immergrünen Kronen, die dann einfach mehr Wind abbekommen.
Der dritte Hauptfaktor ist die Höhe der Bäume. Je höher die Bäume sind, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie umgeworfen werden.
Wir raten den Waldbesitzenden also, dass eine Vorsorge gegen Sturmschaden vor allem durch die Wahl der richtigen Baumart und die Begrenzung der Baumhöhe gelingen kann. Die Baumart ist eine langfristige Festlegung, die man einmal wählt. Wenn man aber in der Bewirtschaftung dafür sorgt, dass die Bäume in einer möglichst kurzen Zeit möglichst dick werden, kann man viel gewinnen. Denn je weniger lange sie brauchen, um eine ausreichende Dicke zu erreichen und je niedriger sie sind, umso weniger Sturmrisiko tragen sie.
Trotz aller positiven Folgen für die Wissenschaft muss man trotzdem sagen: Die Ereignisse damals waren wirklich schlimm für die vielen Waldbesitzenden.
Blick auf den Moosturm auf dem Mooskopf im Schwarzwald nach dem Sturm. Foto: LFV BW/Archiv
Wenn man sich die Bilder von damals anschaut, fällt es nicht schwer nachzuvollziehen, wie schwer die Schäden für die Waldbesitzenden wogen. Sie haben schon anklingen lassen, welche Maßnahmen man für einen sturmsichereren Wald treffen kann. Wie können Waldbesitzende nach solchen Extremereignissen in Zukunft besser unterstützt werden? Die Aussicht auf Sturmereignisse besteht ja weiterhin.
Die eine Sache ist nun mal die naturale Dimension. Da gibt es schon genaue Vorstellungen, wie man Wälder stabiler und resilienter gestalten könnte. Das ist aber nur ein Teil der Materie. Tatsächlich glaube ich, sollten wir uns darauf einstellen, dass solche Ereignisse nicht seltene Ausnahmefälle sind, sondern dass wir öfter damit zu tun haben werden.
Und da müssten wir unsere Organisation eigentlich besser als bisher auf den Umgang mit solchen Krisen und Herausforderungen einstellen. Mit diesen Fragen beschäftigen sich vor allem die Kolleginnen und Kollegen der Abteilung Forstökonomie und Management. Ein Umgang mit Krisen, der die Menschen nicht überfordert, ist das Ziel. Das ist bei Vivian/Wiebke und Lothar – einschließlich der jeweils nachfolgenden Borkenkäferkalamitäten – immer wieder deutlich geworden.
Die Kolleginnen und Kollegen draußen im Revier leisten in solchen Fällen beinahe Unvorstellbares und schaffen es immer wieder, die Schäden zu bewältigen. Beim derzeitigen Zuschnitt von Organisation und Abläufen lässt sich das allerdings nur im Rahmen massiver Mehrleistung darstellen. Auf Dauer kann das nicht gut gehen. Es wäre besser, wir entwickeln organisatorische Abläufe, durch die die Leute mit begrenzten Ressourcen nicht zu schnell an ihre Grenzen stoßen. An dieser Stelle gibt es einen enormen Nachholbedarf, weil wir noch immer davon ausgehen, dass die Försterinnen und Förster alles wieder so hinbekommen, wie es gewesen ist. Das entspricht aber nicht den Tatsachen. Deshalb denke ich, dass neben den Überlegungen, wie wir den Wald nach Baumarten und Struktur zusammensetzen, besonders die Frage der Organisation wichtig ist. Wie gewährleisten wir einen funktionengerechten Wald, wie schaffen wir eine funktionierende Organisation und wie geht die Gesellschaft mit solchen Krisen um, damit die Menschen, die am und im Wald arbeiten, dabei keinen Schaden nehmen? Das wird gerne vergessen, ist aber eine extrem wichtige Sache. Denn der nächste Sturm, die nächste Krise kommt garantiert.