Hinweis: Dieser Text stammt aus dem Jahr 2010. Die Funktionen der erwähnten Personen haben inzwischen teilweise geändert.

Die Buchen-Urwälder der ukrainischen Karpaten beeindrucken durch Schönheit und Harmonie. Seit 2007 gehören sie zum Weltnaturerbe der Unesco. Eine Inventur durch schweizerische und ukrainische Forscher soll genauere Daten über den grössten Buchen-Urwald Europas geben.

Die Fahrt vom Dorf führt über eine holprige Strasse mit vielen Löchern. Valeriy Feyer, der lokale Leiter des Biosphärenreservates von Schyrokyj Luh, fährt uns in seinem Geländewagen bis zur Barriere, die den Eingang zum Reservat markiert. Unser Ziel ist der Buchen-Urwald von Schyrokyj Luh. Zusammen mit dem angrenzenden Urwald von Uholka umfasst er eine Fläche von rund 10 000 Hektaren und ist damit der grösste Buchen-Urwald Europas.

Bis 50 Meter hohe Buchen

In Schyrokyj Luh in Transkarpatien, der westlichsten Provinz der Ukraine, sind normalerweise kaum Menschen anzutreffen. Nicht so diesen Sommer. Wissenschafter aus der Schweiz und der Ukraine nehmen in einem mehrjährigen Projekt diesen für europäische Verhältnisse einmaligen Wald unter die Lupe.

Wir, eine Gruppe von Journalisten, treffen ein Team bei Feldaufnahmen. Luca Mini, Student an der Zürcher Fachhochschule für Angewandte Wissenschaften in Wädenswil, blickt durch ein orangefarbenes Instrument. In etwa 15 Meter Entfernung, direkt neben einem Baum, steht sein Kollege Volodymyr Trotsiuk von der Nationalen Forsttechnischen Universität der Ukraine in Lemberg. Sie messen die Entfernung des Baumes zum Stichprobenzentrum. Anschliessend werden Durchmesser und Höhe des Baumes bestimmt. Bis zu 50 Meter hohe Bäume haben sie gemessen – eine stattliche Höhe für Buchen. Die beiden arbeiten zusammen mit sechzehn weiteren Studierenden und einem dreiköpfigen Leitungsteam während zweier Monate in den Buchen-Urwäldern von Uholka und Schyrokyj Luh.

Noch nie seien so umfassende Aufnahmen in Buchen-Urwäldern auf einer so grossen Fläche gemacht worden, sagt Fedir Hamor, der Direktor des Karpaten-Biosphärenreservates. Insgesamt 354 Stichprobenflächen sind es, jede misst 500 Quadratmeter. Die Auswertung der Daten soll neue Erkenntnisse über die Struktur und Dynamik dieser Wälder zutage fördern.

Offene Fragen zur Waldentwicklung

Von besonderem Interesse seien die natürlichen Störungen in diesem Urwald, erklärt die Leiterin des Projekts, Brigitte Commarmot von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). So sei etwa unklar, wie resistent Buchen-Urwälder gegenüber Stürmen und Insektenbefall sind. Allgemein gelten sie als sehr stabil. Doch auf welche Weise lösen sich die Baumgenerationen ab? Geschieht die Verjüngung des Waldes in der Regel auf kleinen Flächen? Oder kommt es doch hin und wieder zur Ausbildung gleichförmiger Bestände, denen grossflächige Zusammenbrüche folgen?

Die Verantwortlichen des Biosphärenreservates führen die Besucher weiter. Beim Überqueren eines Baches treffen wir Olga Nadyeina von der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kiew. Mit ihren Forscherkolleginnen sucht sie nach bestimmten Flechten, die für diese Wälder typisch sind. Nach einer mehrstündigen Wanderung verdichtet sich der Eindruck von Urwald: Abgestorbene Bäume, mit Moos bedeckt und von sogenannten Konsolenpilzen übersät, prägen das Waldbild.

Mächtige Buchen, wie man sie in einem bewirtschafteten Wald kaum zu sehen bekommt. Und dazwischen immer wieder Stellen mit jungen Bäumen, die von dem Licht in kleineren Lücken des Waldes profitieren. Ein kleinräumiges Mosaik. Werden und Vergehen auf engstem Raum. Die Tatsache, dass hier der Mensch nie mit Axt und Säge gewirkt hat, verleiht diesem Wald etwas Ehrfurchtgebietendes. Seine Dimensionen werden erst richtig bewusst, wenn nach einem Aufstieg über die Waldgrenze hinaus der Blick über ihn schweift. Da wächst nicht nur ein Wald nach seinen eigenen Gesetzen. In diesen Wäldern leben auch Bären und Wölfe.

«Eigenartiger Eindruck»

1930 reiste der Schweizer Forstingenieur Conrad Roth im Auftrag einer Schweizer Holzhandelsfirma nach Transkarpatien. Er sollte abklären, ob die Waldungen eines ehemaligen ungarischen Grossgrundbesitzers sich für eine Holznutzung eigneten – und stiess dabei auf noch unberührte Wälder. Tief beeindruckt von dem Vorgefundenen, beendet er seinen Bericht mit folgenden Worten: "Der eigenartige Eindruck der gewaltigen Wälder der Waldkarpaten in ihrer Natürlichkeit und Ruhe, nur belebt durch das Rauschen der Bergbäche und des Windes und hie und da unterbrochen durch das ferne Krachen eines zu Boden stürzenden alten Urwaldriesen, bleibt unvergesslich."

Zur selben Zeit begann Alois Zlatnik, ein tschechoslowakischer Forstwissenschafter, mit der Erforschung der Wälder in dieser Region, die damals zur Tschechoslowakei gehörte. 1936 legte Zlatnik in einigen Urwaldbeständen Dauerbeobachtungsflächen an. Er gehört damit zu den Pionieren der europäischen Urwaldforschung. Die geplanten Folgeaufnahmen konnte er jedoch nicht realisieren, weil Transkarpatien 1939 an Ungarn und später an die Sowjetunion fiel – und als Tschechoslowake durfte Zlatnik nicht mehr einreisen.

Vergessene Urwälder

Im Buchen-Urwald von Schyrokyj Luh machte Zlatnik keine Aufnahmen. Aufgrund seiner Empfehlung wurde dort aber bereits in den 1920er Jahren ein Waldreservat ausgeschieden. Zusammen mit einigen anderen Reservaten bildete dieses später in der Ukraine den Kern des Karpaten-Biosphärenreservates. Während des Kalten Krieges gerieten die Urwälder in dieser Region in Vergessenheit. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs änderte sich dies. 1992 wurde das Biosphärenreservat durch die Unesco anerkannt, und 1994 besuchten Fachleute aus der Schweiz, Österreich und Liechtenstein diese damals in Westeuropa unbekannten Buchen-Urwälder. Sie wollten dort unter anderem Antworten auf die Frage finden, wie sich der Sihlwald bei Zürich entwickeln könnte, wenn dieser nicht mehr bewirtschaftet wird.

Zu dieser Delegation gehörte auch Mario Broggi. Fünf Jahre später initiierte er als Direktor der WSL die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Partnerinstitutionen in der Ukraine. Seit zehn Jahren untersuchen Forscher der WSL, des Karpaten-Biosphärenreservates und des Ukrainischen Instituts für Gebirgswaldforschung in Ivano-Frankivsk nun die Waldstruktur und Dynamik auf einer zehn Hektaren grossen Fläche im Buchen-Urwald von Uholka. Eine gleich grosse Untersuchungsfläche existiert im Sihlwald bei Zürich, der über Jahrhunderte bewirtschaftet wurde und sich nun ohne menschlichen Einfluss in Richtung Naturwald entwickelt.

Viel totes Holz

Zurzeit sind die Unterschiede zwischen den Flächen noch beträchtlich. Der Urwald in den Karpaten zeichnet sich insbesondere durch einen deutlich grösseren Anteil an dicken Bäumen aus. Drei oder vier Bäume pro Hektare sind dort dicker als ein Meter. Im Sihlwald fehlen solche Riesen; die dickste Buche hat einen Durchmesser von knapp 90 Zentimetern.

Der zweite markante Unterschied betrifft das abgestorbene Holz, das sogenannte Totholz. Während in Uholka 110 Kubikmeter pro Hektare gemessen wurden, waren es im Sihlwald lediglich knapp 10 Kubikmeter. Infolge der aufgegebenen Bewirtschaftung wird dieser Wert nun aber kontinuierlich ansteigen. Aufgrund der Altersstruktur der Bäume sind in etwa 50 Jahren im Sihlwald ähnliche oder sogar höhere Totholzmengen als in Uholka zu erwarten. Die Buche wird sich aufgrund ihrer Konkurrenzkraft – sie kommt in der Jugendphase mit weniger Licht aus als andere Baumarten – je länger, je mehr durchsetzen. Damit nimmt die Baumartenvielfalt ab. Dafür entstehen neue ökologische Nischen und Lebensräume. Vor allem die sehr alten Bäume und das allgegenwärtige Totholz machen Urwälder insbesondere für holzbewohnende Tiere, Pflanzen und Pilze zu einem speziellen und wertvollen Lebensraum.

Feldaufnahmen und Satelliten

Urwaldforschung habe in Europa bisher fast ausschliesslich auf kleinen, wenige Hektaren umfassenden Flächen stattgefunden, sagt Commarmot. Unklar ist, ob die dort gewonnenen Erkenntnisse tatsächlich repräsentativ sind. Die nun in den ukrainischen Karpaten durchgeführte Stichprobeninventur, die massgeblich durch das Schweizer Staatssekretariat für Bildung und Forschung finanziert wird, ist deshalb einmalig.

Das Konzept der Aufnahme auf den Probeflächen ist ähnlich wie in den Schweizer Naturwaldreservaten. Protokolliert werden Informationen zu sämtlichen Bäumen inklusive spezieller Strukturen wie Höhlen und Rindenrissen. Um Aussagen über die nächste Baumgeneration machen zu können, erheben die Forscher auf einer Teilfläche die Anzahl der jungen Bäume. Entlang einer 16 Meter langen Linie vermessen sie das abgestorbene Holz, wobei zwischen stehendem und liegendem Totholz unterschieden wird. Ergänzt werden diese Daten durch Angaben über die Dichte und Schichtung des Waldes. Die Waldforscher protokollieren zudem durch den Wind gebrochene oder geworfene Bäume.

Von diesem Datenschatz profitiert unter anderem Martina Hobi von der WSL. Sie wertet die Daten im Rahmen ihrer Doktorarbeit aus und hat auch die Erlaubnis, auf jeder Stichprobenfläche von einem Baum einen Bohrkern zu entnehmen. Das Auszählen der Jahrringe liefert einen Einblick in die Altersstruktur des Urwaldes. Schliesslich möchte Hobi die Inventurdaten mit hochauflösenden Satellitenbildern vergleichen und auf diese Weise Aussagen über die gesamte Waldfläche machen.

Hinweise auf die Biodiversität liefern die vorhandenen Habitatstrukturen. Eine umfassende Aufnahme von Pflanzen und Tieren hätte den Rahmen des Projekts gesprengt. Ausnahmen bilden Erhebungen eines ukrainischen Forschers über holzbewohnende Insekten sowie die Untersuchungen an den Flechten. Von besonderem Interesse ist etwa die seltene und gefährdete Lungenflechte. Diese komme praktisch nur auf alten Laubbäumen vor, sagt Christoph Scheidegger von der WSL. Mit Hilfe von molekulargenetischen Methoden wird er mit seinem Team in den nächsten Monaten die genetische Vielfalt der Art untersuchen und mit Ergebnissen aus der Schweiz vergleichen.

Mosaikartige Waldstruktur

Der Schweizer Forstingenieur Ruedi Iseli, der die Feldaufnahmen in Transkarpatien leitet, geht aufgrund seiner Beobachtungen davon aus, dass grössere Zusammenbrüche in diesen Wäldern infolge des mosaikartigen Aufbaus sehr selten sind. Zur Ausbildung von einschichtigen sogenannten Hallenwäldern, scheint es im Urwald nicht oder nur sehr selten zu kommen. In der Regel sterben einzelne alte Bäume ab. Meistens werden sie durch den Wind umgeworfen. Der eine oder andere Baumveteran dürfte tatsächlich auch aus Altersschwäche plötzlich zu Boden krachen, so wie es Roth in seinem Bericht beschrieben hat. Anschliessend füllen junge Buchen diese Lücken rasch wieder aus.

Der Wald befindet sich ganz offensichtlich in einem Gleichgewicht – also in einem Zustand, den Förster auch in bewirtschafteten Wäldern anstreben. Es sei beeindruckend zu sehen, wie harmonisch und kontinuierlich die Waldentwicklung im Buchen-Urwald ablaufe, sagt Iseli. Und stellenweise sehe es fast so aus wie in einem naturnah bewirtschafteten Schweizer Buchenwald. Als Leiter des Forstbetriebes der Bürgergemeinde von Solothurn kennt er die Buchenwälder am Jurasüdfuss sehr gut. Von einem besseren Verständnis der natürlichen Abläufe in den Urwäldern profitiere auch die Waldwirtschaft, ist Iseli überzeugt. Dies erlaube nämlich, die heutigen Bewirtschaftungskonzepte weiter zu optimieren und den Wald mit möglichst sanften Eingriffen in die gewünschte Richtung zu lenken.

Grüner Tourismus

Der Wert der letzten grossen Buchen-Urwälder in Transkarpatien wird immer mehr erkannt. 2007 wurden sie zusammen mit weiteren Urwaldresten der ukrainischen und der slowakischen Karpaten zum Unesco-Weltnaturerbe erklärt. Dies werde dem grünen Tourismus Auftrieb verleihen und damit einen Beitrag zu einer besseren ökonomischen Basis der lokalen Bevölkerung leisten, ist Vasyl Lavnyy von der Nationalen Forsttechnischen Universität der Ukraine in Lemberg überzeugt. Immer wieder zeigt er Forstleuten aus Deutschland, der Schweiz und Frankreich die urwüchsigen Wälder – Wälder, wie sie in Westeuropa nicht mehr zu erleben sind.

Urwälder in Europa

Als Urwald wird ein Wald bezeichnet, der keinerlei Veränderungen durch den Menschen erfahren hat. In Westeuropa und im Alpenraum sind nur wenige solche Wälder erhalten geblieben. In der Schweiz sind es drei: der Tannenurwald von Derborence im Wallis (22 Hektaren), der kleine Fichtenwald Scatl´e bei Brigels in Graubünden (9 Hektaren) und der Bödmerenwald im Kanton Schwyz (mit einem unberührtem Kernbereich von rund 150 Hektaren). Grössere Urwaldgebiete findet man heute noch in Skandinavien, auf dem Balkan sowie in Osteuropa.

Viele der osteuropäischen Urwaldreste befinden sich in den Karpaten, die sich in einem weiten Bogen von der Slowakei, Tschechien, Ungarn und Polen über die Ukraine und Rumänien bis nach Serbien erstrecken. In Anlehnung an die Alpenkonvention unterzeichneten 2003 die Karpatenländer die Karpatenkonvention. In dieser ist unter anderem auch der Schutz der verbliebenen Urwälder explizit erwähnt. Nachdem die Länder 2008 im Rahmen der Konvention ein Protokoll über die Biodiversität verabschiedet haben, soll 2011 ein solches zur nachhaltigen Waldwirtschaft folgen. Bis dann sollen auch sämtliche Urwaldgebiete lokalisiert sein.

Ihr Schutz ist keineswegs überall gesichert. Gegenwärtig divergieren die Angaben zur gesamten Fläche der Urwälder in den Karpaten zwischen 320 000 und 400 000 Hektaren. Die grössten Anteile entfallen dabei auf Rumänien, Polen und die Ukraine.

Dieser Beitrag entstand mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.

(TR)