In Nordrhein-Westfalen hat jeder Baum zwei Leben. Nicht nur in der Natur, sondern auch in der gigantischen Daten-
bank des Projektes "Virtueller Wald" wächst er langsam in die Höhe. Das ambitiöse Waldmanagementsystem dient zur Verwaltung von Luftbildern, Laserscans, Bestandes- und Geoinformationsdaten. Nach mehrjährigen erfolgreichen Tests auf einer Gesamtfläche von rund 1300 Quadratkilometern wird die Einführung der ersten Anwendungen mit den potenziellen Kunden abgestimmt. Mit regelmässigen Datenerhebungen wird der digitale Wald à jour gehalten, die Bestandesinventur aufgrund von Fernerkundungsdaten ist schon heute auf Knopfdruck möglich.

Der "Virtuelle Wald" stellt Aufgaben wie Waldinventur, Lokalisa­tion und Produktionsplanung auf eine digitale Basis. Und er erlaubt es sogar, in beiden Richtungen an der Uhr zu drehen. "Unser System ist nicht nur drei-, sondern vierdimensional, weil wir auch die Zeit berücksichtigen können", sagt Prof. Dr.-Ing. Jürgen Rossmann. Er ist Vorstand des RIF e.V., Institut für Forschung und Transfer in Dortmund, das den "Virtuellen Wald" entwickelt hat. Der Blick auf historische Daten hilft zum Beispiel, Veränderungen im Bestand zu verstehen oder die Wirksamkeit früherer Bewirtschaftungsmassnahmen zu beurteilen. Doch ebenso verlockend ist der Blick in die Zukunft. "Wir können bereits heute simulieren, wie sich der Wald unter verschiedenen Rahmenbedingungen entwickeln wird", sagt Rossmann. "Damit können wir auf Knopfdruck untersuchen, wie die geplanten Durchforstungen sich auf Kosten und Erlöse der zukünftigen Ernten auswirken."

Schlaue Kristallkugel

Praxistests haben gezeigt, dass sich mit den Informationen des "Virtuellen Waldes" selbst Einzelbäume orten und schlagen lassen. "Die Holzernte kann grundlegend revolutioniert werden", sagt Juliane Saebel, die bei RIF die Anwendung des "Virtuellen Waldes" betreut. Denn mit der hochaufgelösten Datenbasis wird es möglich, Werthölzer oder Einzelbäume mit bestimmten Parametern anzubieten und zu schlagen – ohne vorherige Rekognoszierungen oder den Zwang, gleich die ganze Parzelle zu durchforsten.

Im kleinparzelligen deutschen Privatwald mit seinen oftmals verwickelten Besitzverhältnissen kommt dazu ein weiterer Vorteil: "Jeder gefällte Baum kann direkt seinem Besitzer gutgeschrieben werden." Bedingung dafür ist allerdings eine gewisse technische Ausrüstung. So müssen die Harvester etwa mit Laserscannern, GPS-Geräten und stabiler Datenverbindung ausgerüstet werden. Für die Forstleute, die vor Ort Daten validieren, reicht dagegen ein Notebook mit der entsprechenden Software aus. "Datenprüfung und Qualitätssicherung laufen mit einem halbautomatischen Prozess", berichtet Saebel.

Durch den digitalen Support konnte die Produktivität der westfälischen Forsteinrichter, deren Aufgaben zum Teil denjenigen den Schweizer Revierförstern, zum Teil denjenigen der freiberuflichen Forstplaner entsprechen, entscheidend gesteigert werden. Um 40 Prozent legt die Taxationsleistung zu, wenn zumindest Grunddaten aus dem "Virtuellen Wald" einbezogen werden können, sind alle Daten vorhanden, steigt sie gar um bis zu 90 Prozent.

Und die Schweiz?

Ein grosser Teil der digitalen Daten in Nordrhein-Westfalen stammt von Flugzeugen, die das gesamte Terrain unter anderem mittels Airborne Laser Scanning (ALS) erfassen. Spezielle Laserscanner tasten das Gelände von oben ab. Blätter, Äste und auch Brachflächen reflektiert den Laserstrahl, was digitale Punkte ergibt. Aus der Summe dieser Reflexe lassen sich sogenannte Punktewolken erzeugen (Abb. 2). Ähnlich wie der Grundriss eines Gebäudes vom CAD-Programm in eine Visualisierung umgesetzt wird, kann die geeignete Software aus den Punktewolken die Bäume rekonstruieren (Abb. 7): Auf dem Bildschirm wächst der "Virtuelle Wald" empor.

Die Schweiz wurde bisher erst einmal flächendeckend bis auf 2000 Metern über Meer mittels ALS erfasst: Von 2000 bis 2008 flog man das ganze Land für das Inventar der landwirtschaftlichen Nutzflächen ab. Seither hat es keine Wiederholungen gegeben. "Für eine Befliegung muss man immer noch mit etwa 30 Millionen Franken rechnen", sagt Christian Ginzler, Gruppenleiter Fernerkundung bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Ohne andere Bundes- oder Forschungsstellen, die sich an der Finanzierung beteiligten, sei ein solcher Betrag kaum zu stemmen.

Für das Schweizerische Landesforstinventar (LFI) setzt man derzeit vor allem auf Luftbilder. Aus zwei sich überlappenden Bildausschnitten lassen sich auch 3D-Daten berechnen. "Die Qualität dieser Daten ist sehr nahe am ALS", sagt Ginzler. Um Laub- und Nadelbäume zu unterscheiden, berücksichtige man auch die Spektraldaten. Die Luftbilder von Swisstopo sind für das LFI frei zugänglich, was das Budget entlastet. Jedoch lässt sich mit den Fotografien naturgemäss nur der Zustand der obersten Vegetationsschicht beurteilen. "Wir hätten gerne mehr Informationen über die Schichtigkeit und die Bestände, aber dazu wäre ein aktiver Sensor notwendig, der in die Kronen eindringen kann", sagt Ginzler.

Die kommerzielle Nachfrage nach ALS-Daten ist derzeit noch gering. Doch das galt früher auch einmal für GPS-Daten, die heute nicht nur in Auto-Navigationsgeräten, sondern auch in Smartphones zum unverzichtbaren Standard gehören. Wenn die Nachfrage steigt, könnten Forschungsanstalten wie die WSL schon bald günstiger an die Laserdaten gelangen.

Gute Ergänzung

"Luftbilder und ALS ergänzen sich sehr gut und können teilweise auch gleichzeitig erhoben werden", sagt Stefan Seifert. Der Informatiker hat sich an der TU München mehrere Jahre mit Lasercanning beschäftigt und ist derzeit als Postdoc an der südafrikanischen Stellenbosch-Universität tätig. In der Kombination von Daten aus verschiedenen Quellen sieht Seifert den Königsweg zum Waldinventar. Und er ist zuversichtlich, dass in den nächsten Jahren Bewegung in den Markt kommt: "Sobald es günstige Angebote für ALS-Befliegungen mit ausreichender Auflösung gibt, wird diese Datenerfassung auch für den Forst schnell zum Standard gehören."

Während die Preise für die luftgestützten Laserscans also schon bald sinken könnten, bleiben noch Probleme der Datenverarbeitung zu lösen. Der europäische Mischwald mit seiner kleinflächigen Struktur bietet den Forschern noch verschiedene Knacknüsse. In Skandinavien, Kanada und den USA, wo viele Forste homogener strukturiert und auch Monokulturen sehr häufig sind, gestaltet sich die Datenerhebung einfacher. Dort gibt es bereits kommerzielle Anbieter, die ALS als Inventurersatz anbieten. Eine Waldinventur, die nur auf ALS basiert, ist für Seifert jedoch zu wenig genau: "Man wird immer Messpunkte am Boden benötigen, um die ALS-Auswertung richtig zu kalibrieren." Diese "ground truth", wie die Spezialisten sagen, also die Wahrheit des Geländes, bleibt auch weiterhin die Domäne von Vermessungstrupps.

Schwere Scanner

Mancherorts schleppen diese Trupps neben Kluppe, Messband und Höhenmesser auch noch schwere Kisten mit. Auch auf dem Boden kommt in Deutschland der Laser zum Einsatz. Terrestrische Laserscanner (TLS) werden auf ein Stativ montiert und erfassen mittels einer 360-Grad-Rotation eine Panorama-Punktewolke. Auch diese lässt sich in eine 3D-Visualisierung umwandeln (Abb. 9).

Die Hauptvorteile von TLS sieht der Scannerspezialist Seifert in der Messgeschwindigkeit und den zusätzlichen Informationen: "Mit jedem Scan wird sehr viel mehr vermessen als nur der Inventurpunkt, das erlaubt zusätzliche Auswertungen zur Waldstruktur." Ein Allzweckmittel seien die Scanner aber nicht, weil die deutsche Waldinventur weit über das reine Baumvermessen hinausgehe. Als aktuelle Nachteile von TLS nennt Seifert das Handling im Gelände, das zusätzliche Gewicht und die trotz sinkender Preise immer noch hohen Anschaffungskosten.

Beim LFI ist man noch etwas skeptisch, was den Nutzen terrestrischer Scanner angeht. "Der Mehrwert muss den Mehraufwand übersteigen", sagt Ginzler. Mehr Informationen über Stammformen, Sortimente und Volumen seien zwar willkommen, doch die Aufnahmegruppen seien schon heute schwer beladen und die Probeflächen des LFI oft in unwegsamem Gelände. Die bis zu acht Kilogramm Zusatzgewicht müssten sich auch in Form zusätzlicher Erkenntnisse auszeichnen. Etwas anders sieht man diese Frage in Frankreich, für dessen Forstinventar quasi auf Vorrat gescannt wird. Das Argument der dortigen Forscher: Man wolle schon jetzt mittels TLS genügend Daten sammeln, um auch die Fragen der Zukunft beantworten zu können.

Satellitenaugen auf dem Wald

Neben Luftbildern und Airborne Laserscanning sorgen auch Satelliten für ein neues Bild vom Wald. Geht es um die Veränderung sehr grosser Waldflächen, etwa nationale Aufforstungen oder die Überwachung von Raubbau, kommen ihre Aufnahmen und Daten zum Einsatz. Mit Hilfe von Satellitendaten entstand etwa der 2011 publizierte Bericht der Uno-Ernährungsorganisation (FAO). Dieser hält unter anderem fest, dass zwischen 1990 und 2005 jedes Jahr 14,5 Millionen Hektar Wald vernichtet wurden.

Mit Satellitendaten arbeitete letztes Jahr auch Greenpeace, um dem Konzern Asia Pulp and Paper (APP) widerrechtliche Rodungen in indonesischen Regenwäldern nachzuweisen. Papier- und Kartonprodukte von APP, die Fasern aus solchen Rodungen enthielten, wurden laut Greenpeace unter anderem vom US-Spielzeughersteller Mattel verwendet. Dessen bekanntestes Produkt ist die Barbie-Puppe. Die im Sommer 2011 lancierte Kampagne bewegte Mattel nach wenigen Monaten zum Einlenken. Die Firma gelobte, fortan weder Papier noch Zellstoff aus Raubholz zu verwenden.

Das "wahre Gesicht von Barbie", so der Ausdruck von Greenpeace, wurde letztlich mittels Satellitendaten enthüllt. Das digitale Waldinventar oder zumindest die digitale Waldflächenbeobachtung taugt also auch als politisches Instrument.