Die Klimaerwärmung hat voraussichtlich grosse Einwirkungen auf die globale Vegetation und Pflanzenverbreitung. Im polaren Ural haben die zunehmenden Temperaturen bereits erste Spuren hinterlassen: Die Waldgrenze ist in den letzten hundert Jahren um bis zu 60 Meter gestiegen. Dies zeigt eine Studie von Wissenschaftern der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL in Zusammenarbeit mit russischen Kollegen.

In hoch gelegenen Ökosystemen der nördlichen Breitengrade begrenzen hauptsächlich tiefe Temperaturen das Vegetationswachstum. Aus diesem Grund wirkt sich die globale Erwärmung zuerst vor allem in diesen Gebieten aus. Der polare Ural ist – im Gegensatz zu den Schweizer Alpen – eine vom Menschen praktische unberührte Gegend. Daher eignet er sich für Untersuchungen im Bereich der natürlichen Waldgrenzen besonders gut. Die vergleichenden Forschungen im Ural liefern deutliche Hinweise auch für die Schweiz.

Satellitenaufnahmen, der Vergleich von aktuellen mit alten Fotografien und die Alterstruktur des Übergangbereichs von Wald zu Tundra belegen es eindrücklich: Die bewaldete Fläche im polaren Ural breitete sich in den letzten 50 Jahren in höher gelegene Gebiete aus (siehe Bildvergleich unten).

Veränderung der Wuchsform

Mit der Verschiebung der Waldgrenze ist auch eine Veränderung der Wachstumsform der sibirischen Lärche feststellbar. Die Mehrheit der über 100 Jahre alten Baumindividuen besteht aus mehreren Stämmen. Rekonstruktionen anhand von Jahrringen belegen, dass viele Bäume über mehrere Jahrhunderte nur kriechend wuchsen, zu Beginn des 20 Jahrhundert jedoch aufrechte Stämme ausbildeten. Frank Hagedorn von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL meint: "Die Entwicklung von mehren aufrechten Stämmen ist eine Übergangsform, die eine Verbesserung der Wachstumsbedingungen durch den Klimawandel anzeigt".

Heute dominieren aufrecht wachsende, einstämmige Lärchen das Erscheinungsbild des Waldes im polaren Ural. 70% dieser Bäume sind nicht älter als 80 Jahre. Baumskelette von ähnlichem Wuchs sind vor mehr als 500 Jahren abgestorben. Sie sind Zeugen einer früheren, wärmeren Klimaperiode, die bis ins 15. Jahrhundert gedauert hat. Das Fehlen von Baumrückständen aus dem 15. bis 19. Jahrhundert dokumentiert die sich anschliessenden kälteren, ungünstigen Verhältnisse.

Wechselwirkung Klima – Waldausbreitung

Die Verschiebung der Waldgrenze fällt mit steigenden Temperaturen und höheren Niederschlagsmengen zusammen. Während der letzten 100 Jahre ist die Jahresdurchschnittstemperatur um 0.9°C und die Niederschlagsmenge um mehr als 50% gestiegen. Der winterliche Niederschlag, meistens in Form von Schnee, hat sich sogar mehr als verdoppelt. Die Jahrringringbreiten korrelieren mit den klimatischen Veränderungen und bezeugen die besseren Wachstumsbedingungen.

Die Ausbreitung des Waldes führt zu einer Zunahme der Biomasse und einer erhöhten Bindung von atmosphärischem CO2. Gemäss der neuen Studie ist dieser Effekt jedoch nur gering. Vielmehr könnte die zunehmende Waldfläche das Klima weiter aufheizen, da ein dunkler Wald im Winter weniger Sonnenstrahlung reflektiert als der Schnee in der baumlosen Tundra.