Flechten gehören in der Schweiz zu den am stärksten gefährdeten Organismen: Beinahe 40 Prozent der baum- und erdbewohnenden Arten gelten als gefährdet. Und 38 Spezies derselben Gruppe sind in der Schweiz ausgestorben. Das bedeutet, dass in der Schweiz mehr Flechten ausgestorben sind als Säugetiere, Vögel, Reptilien und Amphibien zusammen. Unter den 256 prioritären Waldarten mit klarem Massnahmenbedarf (im Sinne von Artenförderungsprogrammen oder auf die Arten ausgerichteten Biotopförderung) machen die Flechten mit mehr als 134 Arten die Hälfte aus. Dies unterstreicht die Bedeutung dieser Organismengruppe für den Naturschutz im Wald.

Unter den ausgestorbenen und stark gefährdeten Flechtenarten sind besonders viele Arten zu finden, welche auf die Borke alter Eichen angewiesen sind und in der Schweiz vermutlich in lichten Wäldern der tiefen Lagen vorkamen bzw. dort Restpopulationen bilden. Verschiedene dieser Flechten gelten gesamteuropäisch als stark gefährdet.

Alte Eichen sind ideale Trägerbäume

Alte, über 100-jährige Eichen (Abb. 1) bieten den Flechten Kleinstandorte mit speziellen Eigenschaften. Dazu gehören tiefe Borkenrisse, die bezüglich Licht und Luftfeuchtigkeit ideal für viele Flechtenarten sind, oder regengeschützte Stammseiten, in denen konkurrenzschwache Spezialisten ihre Nischen finden und die Flüssigkeit in Form von Wasserdampf aufnehmen.

Die Eichen-Stabflechte (Bactrospora dryina) ist eine im Artenschutz bisher wenig beachtete Krustenflechte, die an regengeschützten Stammseiten alter Stiel- und Traubeneichen mit tiefrissiger Borke in tiefen Lagen Europas, des Kaukasus und der Hyrcanischen Wälder am Nordrand des Elburs-Gebirges in Iran vorkommen. Die Art ist jedoch nirgends häufig und gilt in den meisten Ländern, wo sie noch vorkommt, als stark gefährdet.

Bactrospora dryina ist eine leicht kenntliche, unverwechselbare Krustenflechte, welche als Schirmart für zahlreiche, durchwegs seltene und gefährdete Flechten gilt. Mit ihrem grossflächigen, weissen Lager vermag sie die regengeschützten Stammseiten von meist leicht schief stehenden alten Eichen oft von der Stammbasis bis zum Astansatz zu überziehen. Wenn die Flechte fruktifiziert, ist die einheitliche, selten rissige Kruste von schwarzen, bis 1 mm grossen, rundlich gewölbten Fruchtkörpern des Pilzpartners übersät (Abb. 2 und 3). Beim Symbiosepartner der Eichen-Stabflechte handelt es sich um eine fädige Grünalge der Gattung Trentepohlia.

Isolierte Bestände in der Schweiz

Die Schweiz, wo die Art als verletzlich eingestuft ist, verfügt noch über relativ viele Fundorte dieser Art (Abb. 4). Mit Ausnahme der ehemaligen Mittelwälder des Thurgauer Seerückens und des Zürcher Unterlandes, wo die Art dank der Förderung von Eichen in Mittelwäldern erhalten werden kann, ist die Eichen-Stabflechte in vielen Fällen aber nur noch auf wenige Bäume beschränkt. Ihr langfristiges Überleben ist deshalb nicht gesichert.

Hauptgründe für die heutige Gefährdung der Eichen-Stabflechte scheint das Verschwinden alter Eichen in lichten Waldbeständen zu sein. In der Schweiz sind die Vorkommen an Wälder unterhalb 600 Metern Höhe gebunden. Und nur Eichen, die älter als 90 Jahre sind, können besiedelt werden, weil erst dann die Borkenrisse entstehen. Inwiefern für den Rückgang der Art auch Nährstoffeinträge aus Luft und Niederschlag verantwortlich sind, ist nicht geklärt.

Eine Besonderheit stellen strukturell vielfältige Hartholz-Auenwälder im Kanton Zug dar, in denen die Eichen-Stabflechten einen Lebensraum gefunden haben. Dazu zählt der "Zoll-Ischlag", der in der Zuger Reussebene nordwestlich von Hünenberg liegt (Abb. 5). Bei diesem fast reinen Laubwald handelt es sich um einen ehemaligen Auenwald, der früher im Überschwemmungsgebiet der Reuss lag. Die Eichen-Stabflechte hat hier 42 ältere Eichen besiedelt, deren Stammdurchmesser grösser als 50 Zentimeter ist.

Fragmente umgesiedelt

An diesem Standort ist nun in einem zweijährigen Projekt versucht worden, die Vorkommen der Eichen-Stabflechten zu vermehren. Dazu wurde Flechtenmaterial an einer absterbenden Eiche gesammelt und samt Borkenstücken mit darauf wachsender Flechte an unbesiedelte Bäume geklebt. Diese Ansiedlung von Flechtenfragmenten auf zusätzliche Trägerbäume hat sich bei Blatt- und Strauchflechten bereit als erfolgsversprechende Methode zum Artenschutz erwiesen.

Beobachtungen über zwei Jahre haben gezeigt, dass die Mehrheit der Transplantate überlebt hat, allerdings nur an den regengeschützten Stammseiten, wo die Flechte auch natürlicherweise wachsen würde. Folglich kann die Population mit dieser Methode also durchaus vergrössert werden. Allerdings gelang es den transplantierten Flechten in den zwei Projektjahren – eine kurze Zeit für ein Flechtenleben – noch nicht, sich am neuen Standort breit zu machen. Erfahrungen bei Blatt- und Strauchflechten zeigen, dass man sich gut noch zwanzig Jahre gedulden muss, um von einem erfolgreichen Experiment berichten zu können.

Eichen konsequent fördern

In grösseren Populationen wird in diesem Zeitraum eine Besiedlung durch natürliche Prozesse vermutlich ebenfalls erfolgen, aber in den noch vorhandenen Kleinpopulationen könnten solche Artenförderungsmassnahmen eine aussichtsreiche Möglichkeit für die langfristige Erhaltung der Art darstellen. Dies ist ein wesentliches Fazit dieses Projekts, an dem Pro Natura, die Eidgenössische Forschungsanstalt WSL, das Amt für Wald und Wild des Kantons Zug sowie das Bundesamt für Umwelt beteiligt gewesen sind. Möglich wurde dieses Projekt erst durch die gute Zusammenarbeit mit der Grundeigentümerin, der Korporation Hünenberg.

Im Zuge umfangreicher Flussgebietsrevitalisierungen kann die Eichen-Stabflechte mit dieser Methode hoffentlich auch wieder in Hartholz-Auenwäldern ausgesetzt werden. Wegen ihres nur kleinräumigen Ausbreitungspotenzials werden viele Flechten neu geschaffene Lebensräume nämlich kaum durch ihre natürliche Ausbreitung erreichen können. Und in Wäldern, in denen die Eichen-Stabflechte noch vertreten ist, ist die Förderung von Eichen die wichtigste Massnahme.

(TR)