Forstleute denken und handeln in besonders langen Zeiträumen. Oft genug liegt die Weiterentwicklung eines Bestandes in den Händen der nachfolgenden Generation, der man den gut behüteten Schatz spätestens mit der Pensionierung anvertrauen muss. Was aber passiert, wenn der Mensch den Wald nicht zielgerichtet formt? Wie entwickelt sich eine Waldgesellschaft unter dem ausschließlichen Einfluss von Mutter Natur? Und vor allem: Was können wir daraus für die Zukunft für unsere Behandlung der Bestände lernen?

Diese Fragen waren die Grundlagen zur Ausweisung der Naturwaldzellen in Nordrhein-Westfalen vor rund 40 Jahren. Das Europäische Naturschutzjahr 1970 kann als Anfangspunkt für den Beginn der Naturwaldforschung in NRW und Westdeutschland angesehen werden. Allerdings hatte der Eberswalder Forstwissenschaftler, der spätere Bonner Waldbauprofessor und Leiter des Forstamtes Kottenforst Herbert Hesmer, bereits 1934 die Idee entwickelt, ausgewählte, naturnahe Wälder nicht mehr zu bewirtschaften und sie als Studienobjekte für die Forstwirtschaft auszuweisen. Hesmer prägte die Bezeichnung "Naturwaldzelle", die später in NRW für die Naturwaldreservate übernommen wurde. Heute können wir auf gut 40 Jahre Naturwaldforschung in NRW mit inzwischen 75 Naturwaldzellen zurückblicken. Ziel dabei war und ist es, die Waldentwicklung ohne den Einfluss des Menschen zu erforschen und daraus auch Erkenntnisse für eine zukünftige, ökologisch ausgerichtete Bewirtschaftung unserer Wälder zu ziehen.

Wald und Holz NRW führt die forstwissenschaftliche Beobachtung dieser wichtigen Studienobjekte für eine ökologisch ausgerichtete Bewirtschaftung des Waldes in seinem Lehr- und Versuchsforstamt Arnsberger Wald fort. Für die weitere Sicherung und Erforschung der Naturwaldzellen kommt es entscheidend darauf an, jede Beeinträchtigung durch Menschenhand abzuwenden, was in einem bevölkerungsreichen Land wie NRW kein leichtes Unterfangen ist – schließlich gibt es einen steigenden "Erholungsdruck" auf den Wald. 

Deshalb sollen die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen künftig in den gerade neu ausgewiesenen Wildnisgebieten die Möglichkeit haben, "Urwald" bzw. "Wildnis" hautnah zu erleben. Wildnisgebiete gehen auf Initiative der Entschließung des Europäischen Parlamentes aus dem Jahr 2009 zur Wildnis in Europa und der Strategie der Bundesregierung zur biologischen Vielfalt zurück. Die damalige nordrhein-westfälische Landesregierung entschloss sich daraufhin, Wildnisgebiete im landeseigenen Wald auszuweisen. Als Wildnisgebiete kommen in der Regel Laubwälder infrage, die älter sind als 120 Jahre. Im Gegensatz zu den Naturwaldzellen, die durch eine ordnungsbehördliche Verordnung formell ausgewiesen werden, werden die Wildnisgebiete durch eine reine Eigentümerzielsetzung festgelegt. Während bei den Naturwaldzellen die wissenschaftliche Forschung im Vordergrund steht, liegen die Hauptziele der Wildnisgebiete bei:

  • der Sicherung und Verbesserung der Biodiversität,
  • der Vernetzung der Prozessschutzflächen und
  • dem Erleben von Wildnis.

Zur Weiterentwicklung unserer Wissensbasis über natürliche Waldentwicklung hat sich unser Beobachtungsinteresse in den Naturwaldzellen von einer anfangs starken Ausrichtung auf die forstwissenschaftliche Grundlagen und Waldökosystemforschung mit der Erweiterung des historischen forstlichen Nachhaltigkeitsbegriffes verlagert und ebenfalls erheblich erweitert auf: 

  • angewandte Waldbauforschung, insbesondere zu Fragen der Waldverjüngung und Waldpflege,
  • Beobachtung großräumig wirkender Umweltveränderungen, inklusive Klimawandel,
  • Naturschutz durch konsequente Sicherung natürlich ablaufender Prozesse einschließlich der Waldzerfallsphase,
  • Beurteilung der genutzten Landschaft hinsichtlich des Naturhaushaltes (Referenzflächen Umweltverträglichkeit, Biotopbewertung) und
  • Gegenüberstellung des naturschutzfachlichen Wertes bewirtschafteter und unbewirtschafteter Wälder.

Die Naturwaldzellen repräsentieren alle in NRW vorkommenden Waldgesellschaften und ihre Standorte: sowohl seltene Waldtypen oder Wald auf Extremstandorten, als auch wichtige, flächig verbreitete naturnahe Wälder auf mittleren und guten Standorten. Im Netz der ausgewiesenen Naturwaldzellen sind bis heute fast alle in den sieben forstlichen Wuchsgebieten vorkommenden natürlichen Waldgesellschaften abgebildet:

  • Mit 33 % sind Hainsimsen-Buchenwälder besonders in den Mittelgebirgen wie Sauerland und Eifel verbreitet.
  • Artenreiche Buchenwälder nehmen 22 % der Waldfläche in Naturwaldzellen ein. Sie haben einen Schwerpunkt auf basenreichen Standorten in Ostwestfalen.
  • Buchen-Eichenwälder findet man zum Beispiel auf Stauchmoränen des Niederrheinischen Tieflandes mit insgesamt 11 %.
  • Einen erheblichen Anteil nehmen die Stieleichen-Hainbuchenwälder mit insgesamt 14 % ein. Sie lassen sich häufig auf ehemalige Mittelwälder zurückführen, eine über viele Jahrhunderte gebräuchliche Art der Waldnutzung in den niederen Lagen Nordrhein-Westfalens.
  • Daneben sind auch die azonalen Erlen-/Birkenbruch-/Moorwälder mit 8 % sehr gut vertreten. Sie sind sowohl im planaren als auch im submontanen Bereich zu finden.

In der Regel sind die Naturwaldzellen in große Staatswaldflächen eingebunden und liegen häufig in waldreichen Landschaften (z. B. Rothaargebirge, Arnsberger Wald, Eggegebirge, Teutoburger Wald und Eifel). 

Zum 1.1.2012 waren in NRW 75 Waldflächen mit rd. 1.690 ha als Naturwaldzellen geschützt. Der weit überwiegende Teil liegt mit 58 Naturwaldzellen und 1.284 ha im Staatswald. Zwei Naturwaldzellen sind im Rahmen eines Staatswaldverkaufs in Privathand übergegangen. Eine Naturwaldzelle wurde aufgehoben, weil sie genutzt wurde. Im sonstigen öffentlichen Waldbesitz (Bund, Körperschaftswald) befinden sich zehn Naturwaldzellen mit rd. 275 ha; in Privatbesitz sind sieben Flächen mit rd. 131 ha. Die größte Naturwaldzelle ist 109,8 ha, die kleinste 1,4 ha groß. Ein deutlicher Schwerpunkt der Größe von Naturwaldzellen liegt in der Größenklasse 10 bis 20 ha. 

Oberstes Gebot für Untersuchungen in Naturwaldzellen ist die Reproduzierbarkeit der angewandten Forschungsmethoden über lange Zeiträume sowie die Kontinuität in der Dokumentation. Für alle ausgewiesenen Naturwaldzellen werden die wichtigsten Grunddaten erhoben: Lage, Klima, Geologie, Boden, Vegetation, Bestandesbeschreibung und Bestandesgeschichte.

In jeder Naturwaldzelle ist eine in der Regel zwei ha große, im Gelände versteinte Kernfläche eingerichtet, deren eine Hälfte wilddicht eingezäunt ist. Dort ist jeder Baum und Strauch ab einem Brusthöhendurchmesser von mehr als 4 cm nummeriert. In einem zehnjährigen Turnus werden von jedem nummerierten Baum der Durchmesser und die Höhe gemessen. Darüber hinaus werden an jedem Baum die vorhandenen Schäden und die soziologische Stellung beurteilt.

Für 70 Naturwaldzellen liegen diese waldkundlichen Aufnahmen vor. In den 14 ältesten Naturwaldzellen wurde 2011 bereits die fünfte waldkundliche Erhebung durchgeführt. Zum Standardprogramm für alle Naturwaldzellen gehören noch die Erfassung des Bodenzustandes und die Dokumentation der Bäume in Stammverteilungsplänen. Der Geologische Dienst hat in fast allen Naturwaldzellen den Bodenzustand verbunden mit einer Bodenfeinkartierung im Maßstab 1:2.500 bis 1:10.000 je nach Größenordnung erfasst.

Nach 40 Jahren – wenn auch in forstlichen Dimensionen noch keine lange Zeit – können wir heute Trends und Entwicklungsergebnisse sehen:

  • In den Buchenwäldern hat die Buche ihre Dominanz weiter ausgeweitet, so dass die Buchen-Eichenwälder des Niederrheinischen Tieflandes sich wohl mittelfristig zu reinen Buchenwäldern entwickeln werden. Die Eiche braucht oft die Bewirtschaftung, soll sie erhalten werden.
  • Es hat ein deutlicher Holz-Vorratsaufbau stattgefunden.
  • Die Baumverjüngung ging in Artenzahl und Deckungsgrad zurück, was sich auf zunehmendes Schließen der Bestände in Verbindung mit fehlender forstlicher Nutzung zurückführen lässt.
  • Wildverbiss beeinflusste die Artenzahl und Zusammensetzung in der Strauch- und Krautschicht.
     

In vielen Naturwaldzellen ist im Gatter eine artenreichere und höhere Naturverjüngung zu beobachten als außerhalb. Außerhalb gegatterter Bereiche kann eine Verdrängung von Mischbaumarten beobachtet werden, die zu einer Abnahme der Artenvielfalt bei der Baumverjüngung führt.

Einige Beispiele:

  • Naturwaldzelle Nr. 24 Teppes Viertel: Im Gatter gibt es eine artenreichere und höhere Naturverjüngung. Neben Rot- und Hainbuche gibt es auch Birke, Vogelbeere, Kirsche und Esche. Im Winter liegt das Verbissprozent bei über 71, im Sommer bei knapp 40.
  • Naturwaldzelle Nr. 72 Laendern: Im Gatter ist ein Aufwachsen von Ulmen- und Eschenverjüngung zu beobachten, außerhalb des Gatters kaum.
  • Naturwaldzelle Nr. 39 Schorn: Außerhalb des Gatters gibt es keine, im Gatter dagegen eine artenreiche Naturverjüngung (Individuen im Zaun: 13.280, außerhalb 260; Strauchhöhe außerhalb des Zauns maximal 30 cm, im Zaun alle Größenklassen bis über 3 m vorhanden).

Auch spielen Schälschäden an der Naturverjüngung beim Einwachsen in das Dickungsstadium zunehmend eine Rolle. Dies wurde in der jüngeren Vergangenheit verstärkt festgestellt. 

  • Über die Holz bewohnenden und Holz zersetzenden Pilze, über die Totholzkäfer oder über die Moose und Flechten sind seit Ende der 80er- und in den 90er Jahren jeweils eigene Untersuchungsreihen eingeleitet worden. 
  • In bisher 31 Naturwaldzellen wurden Holz zersetzende Pilze erfasst. In diesem Zusammenhang wurden bisher 18 Rote-Liste-Arten gefunden. 
  • Besonders aktuell sind Fragestellungen zum Einfluss des Klimawandels auf Wald und Umwelt. 

Auf der Basis der seit 1971 in den Naturwaldzellen aufgebauten Datengrundlage konnten hierzu gerade in der jüngsten Vergangenheit Auswertungen gefahren werden, deren Ergebnisse zeigen, wie schwierig es ist, den Klimawandel als eindeutige Ursache für beobachtete Phänomene zu bestätigen. 

Zu den wenigen, eindeutig dem Klimawandel zuzuordnenden Phänomenen gehören das Verschwinden bestimmter nordischer Totholzkäfer-Arten und die Zunahme frostempfindlicher, immergrüner Arten wie Efeu und Stechpalme. Auch das Buschwindröschen profitiert von der früher im Jahr beginnenden Vegetationsperiode. Insgesamt konnte eine Zunahme der Arten festgestellt werden. So wurden zum Beispiel in 21 untersuchten Naturwaldzellen bisher 2.254 Käferarten nachgewiesen. Darunter fanden sich nicht nur überproportional viele seltene und gefährdete Arten, sondern auch zahlreiche Neu- und Wiederfunde verschollener Arten. 
Damit leisten Naturwaldzellen einen bedeutenden Beitrag zum Erhalt und zur Förderung gefährdeter Lebensräume und Artengemeinschaften.