Dieser Artikel ist der zweite Teil einer dreiteiligen Serie zur Entwicklung der agrarischen Waldnutzungen in der Schweiz von 1800 bis 1950:

Teil 1: Waldweide, Waldheu, Nadel- und Laubfutter
Teil 2: Nadel- und Laubstreue
Teil 3: Waldfeldbau, Waldfrüchte und Harz

Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war der europäische Wald integraler Bestandteil des agrarischen Lebens- und Produktionsraums. Waldweide, Waldfeldbau, Viehfutter- und Streuentnahme sowie Gewinnung von weiteren hauswirtschaftlichen oder nebengewerblichen Produkten wie Harz, Gerberlohe, Wildkräutern und Beeren standen im "landwirtschaftlichen Nährwald" gleichberechtigt neben der Holzproduktion. Sie wurden erst im Zuge der aufkommenden Forstwissenschaft als "Nebennutzungen" bezeichnet. Agrarische Nutzungen prägten den europäischen Wald auch noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert, unmittelbar bevor sich die forst- und landwirtschaftlichen Bereiche trennten.

Forstlich verwerflich, aber unentbehrlich

Die Waldstreunutzung gehört zu den historisch bedeutendsten agrarischen Waldnutzungsformen. Aus forstlicher Sicht zählte sie zu den schädlichsten Nebennutzungen überhaupt. Im Praktischen Forstwirth für die Schweiz wurde sie 1866 als "unbedingt verwerflich" bezeichnet, weil sie "den Ruin des Waldes herbeiführt" und auch der Landwirtschaft einen schlechten Dienst leiste, "indem diese Einstreu in den Stallungen einen nur mittelmässigen Dünger erzeugt." Trotzdem konnte sie nicht einfach verboten werden, weil die Nadel- und Streunutzung in den meisten Kantonen für die bäuerliche Bevölkerung von grosser Bedeutung war.

Arten der Waldstreunutzung

Grundsätzlich sind drei Arten von Waldstreue zu unterscheiden:

  • Die Rechstreue (auch Bodenstreue genannt) gewann man je nach der örtlichen Baumartenzusammensetzung aus den abgefallenen Nadeln von Fichten, Weisstannen, Lärchen, Arven oder Föhren bzw. dem Laub von Buchen, Ahornen, Kastanien, Eichen und Linden.
  • Die Schneitelstreue (auch Aststreue) bestand aus den abgeschlagenen kleineren Zweigen von Nadelbäumen.
  • Die Krautstreue setzte sich aus der gesamten niederen Bodenvegetation inklusive Farn, Heidekraut, Heidelbeerkraut, Schmiele, Ginster, Brombeere und Moos zusammen.

Meist wurde eine Mischung von Rech- und Krautstreue genutzt, wobei beim Zusammenrechen häufig auch die oberste Erdschicht abgeschält wurde (Plaggenhieb). Gemäss volkskundlichen Beschreibungen für den alpinen und voralpinen Raum (Uri, Wallis, Berner Oberland) verwendete man dazu entweder einen Schaber mit schaufelförmigem und vorne hakenförmig eingebogenem Eisen oder einen eisernen Adlerrechen mit eng aneinander stehenden, gekrümmten Zinken und kurzem Holzstiel (Abb. 1). Damit kratzte man teilweise auf den Knien das Laub und die Nadeln ("Chris", "Chrissu", "Trel"), häufig vermischt mit Moos ("Miesch") und krümeliger Walderde, fein säuberlich zusammen und ergänzte von Fall zu Fall mit gesichelten oder von Hand gerupften Farnkräutern und Waldgräsern. Wenn es nur um das Laub ging und der Untergrund geschont werden sollte, wischte man es mit verschiedenen Arten von Besen zusammen oder führte die Arbeit auch von blosser Hand durch.

Genutzt wurde sowohl im Herbst wie im Frühling, wobei sich der genaue Nutzungszeitpunkt in erster Linie danach richtete, ob der Waldboden genügend trocken war. Die im Herbst gesammelte Streue wurde meist direkt mit Tragtüchern oder grossen Rückentragkörben ("Chris-Tschifferen", "Streuwi-Chorb", "Grissnadlehutte", "Laubhutte") - nicht selten von Frauen und Kindern (Abb. 2) - in den Stall, in dem das Vieh gerade untergebracht war, getragen und sofort verbraucht. Im Frühjahr trug man die Streue dagegen zur Zwischenlagerung vorerst in tristenartigen Haufen zusammen. Damit diese riesigen runden Streuehaufen mit bis zu vier Metern Höhe und Durchmesser in der Zwischenzeit nicht vom Wind verweht oder vom weidenden Kleinvieh zertreten wurden, versah man sie mit einer Deckholzschicht. Beim winterlichen Abtransport wurde die Streue dann samt der angefrorenen Erde in Tüchern auf Ästen zu den Schlitten und mit diesen zu den Ställen gezogen.

Andernorts wurde die Waldstreue unter Dach zwischengelagert, so in Uri in so genannten "Streiwi-Stadeln", einem balkonähnlichen Ausbau unter dem Gadendach, im Fieschertal (Wallis) in einem angebauten Verschlag und im Berner Oberland in eigentlichen Streuhütten an den Waldrändern. Für diese letzte Region sind zwei weitere Besonderheiten überliefert. Die Waldstreue wurde von Frauen und Kindern nicht nur im Herbst und im Frühling, sondern das ganze Jahr über "an den trockenen Stellen der Nadelwälder auf Felsen und Wegen zusammengescharrt und im Tragkorb gesammelt". Auf den Vorfrühling beschränkt war dagegen die Nutzung der grossen Ameisenhaufen, die man sorgfältig abhob, "bevor die Ameisen im oberen Stock sind".

Verwendung der Nadel- und Laubstreue

  1. Einstreue im Stall
    Nadel- und Laubstreue wurde in erster Linie als Einstreue im Stall zur Bindung des Viehdungs verwendet. Ein gutes Einstreumaterial im Stall muss erstens dem Vieh ein warmes, trockenes Lager bieten, zweitens im Mist den Verwesungsprozess unterstützen, drittens den Dünger mit Pflanzennährstoffen anreichern und viertens lokal verfügbar bzw. erschwinglich sein.
  2. Düngung von Heuwiesen und Kartoffeläckern
    Neben der Verwendung im Stall trug Nadel- und Laubstreue auf Heuwiesen und Kartoffeläckern zur Dungbildung bei.
  3. Bettlaub
    Das Sammeln des gefallenen Buchenlaubs als Füllung der Bettunterlagen ist in erster Linie für das Hauptverbreitungsgebiet der Buche überliefert. An Stelle des "Strohsackes" wurde hier mancherorts traditionellerweise ein mit Buchenlaub gefüllter "Laubsack" benutzt (Abb. 3), den man täglich mit dem Arm durch einen seitlichen Schlitz etwas auflockerte.
  4. Moos und Wald-Seegras als Füll- und Dekorationsmaterial
    In vielen Alpentälern sammelte man noch im 20. Jahrhundert in den Wäldern oder auf den Steinen längs der Flüsse Moos, das man zum Hausbau verwendete: Bei Blockbauten aus Rundbalken oder von Hand behauenen Balken, wie sie bei der Errichtung von Ställen und Schobern angewendet wurden, stopfte man die Wandritzen mit Moos sorgsam aus. Im Wallis wurde Moos auch zum Abdichten der Wasserleitungen (Suonen) eingesetzt (Abb. 4), ebenso in recht grossen Mengen zu Dekorationszwecken bei kirchlichen Festen. Im Mittelland spielte das Wald-Seegras eine gewisse Rolle als billiges Füllmaterial für Möbel und Sattlererzeugnisse.

Kartoffel erhöhte Streuebedarf

Die Kartoffel gehörte zu jenen neuen Pflanzen, deren Einführung im 18. und frühen 19. Jahrhundert entscheidend zur Intensivierung der Talnutzung im alpinen Raum beitrug und die vielerorts den Bedarf an Waldstreue massiv erhöhte:

  • Erstens verdrängte der Kartoffelanbau nicht selten die wenigen verbliebenen Getreideäcker (Getreide lieferte gute Streue).
  • Zweitens kann man davon ausgehen, dass die mit der Ausbreitung der Kartoffel einhergehende Agrarintensivierung im Talboden auch Flusskorrekturen und Meliorationen mit sich brachte. Damit wurden die Sumpf- und Rietwiesen zunehmend reduziert, die man im Alpenraum sehr geschätzt hatte, "denn man hatte ja kaum Stroh zur Streue und neben dem Baumlaub war Rietgras als solches unentbehrlich geworden."
  • Drittens induzierte der Kartoffelbau ein Bevölkerungswachstum, wobei vor allem die unteren Schichten zunahmen, die mit ihrer "Ziegen-Kartoffel-Zwergwirtschaft" den Bedarf an Waldstreue weiter erhöhten.

Im alpinen Raum scheinen die grundlegenden Entwicklungen, welche die Waldstreue strukturell unentbehrlich machten, schon vor 1800 stattgefunden zu haben. 1818 sah Forstmeister KASTHOFER im Berner Oberland keinen einzigen zugänglichen Buchenwald, "der nicht von seinem obersten Anfange bis an sein unterstes Ende ganz rein von Buchenlaub gewischt worden wäre." Auch sei am Brienzersee zur Versorgung von Gemeinden ohne eigene Buchenwälder ein schwungvoller Handel mit jährlich etlichen hundert Schiffsladungen Buchenlaub aufgezogen worden. Auch 1874 wurde im Berner Oberland das Laub der Buchenwälder noch so sorgfältig zusammengewischt, "dass man oft die zurückgebliebenen Blätter zählen könnte…".

Verbesserte Transportmöglichkeiten beendeten Waldstreunutzung

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Waldstreunutzung im Berggebiet vielerorts weiterhin strukturell unentbehrlich, beispielsweise im Wallis und Tessin. Mit dem Ausbau der Eisenbahn verbesserten sich aber die Möglichkeiten, Stroh von fremden Regionen zuzukaufen. Dies führte allmählich dazu, dass man Waldstreue nur noch vereinzelt in nicht erschlossenen Weilern verwendete. Ihr Ende fand die intensive Waldstreunutzung also mit den verbesserten Transportmöglichkeiten, die kostengünstige Stroh-Importe möglich machten. Im "Flachland" war dies um 1900, in den "Berggebieten" in den 1960er Jahren definitiv der Fall.

 

(TR)