Im Rahmen einer Forschungsarbeit zum Thema "Biologische Rationalisierung" untersuchten Wissenschafter Waldbestände, die nie durchforstet worden sind. Daraus leiteten sie neue Produktionskonzepte ab. Teil 2 der vierteiligen Artikelserie zeigt die Ergebnisse der Analyse unbehandelter Fichtenbestände und die daraus abgeleiteten, neuen Produktionskonzepte für Fichte.

Die untersuchten unbehandelten Fichtenbestände waren zwischen 13 und 62 Jahre alt und hatten Oberhöhen bis maximal 33,8 m. Die Bonität lag zwischen 17 und 35, wobei der überwiegende Teil der Bestände eine Bonität von 30 oder mehr aufwies. Es handelt sich somit um sehr wüchsige, für das Schweizer Mittelland typische Standorte. Alle untersuchten Fichtenbestände waren gepflanzt worden und zwar sehr dicht: Die Pflanzabstände lagen zwischen 0,8 und 1,5 m, dies entspricht 4500 bis über 15’000 Fichten pro Hektare. Die Ergebnisse gelten für Mittellandstandorte mit Holzproduktionsfunktion (keine Schutzfunktion!).

Der erste Eindruck täuscht

Undurchforstete Fichtenbestände machen einen sehr dichten und dunklen Eindruck, mit vielen dünnen, kurzkronigen und wenig stabilen Bäumen (Abb. 1). Tatsächlich ist der durchschnittliche Baum bedeutend dünner und schlanker als in vergleichbaren gepflegten Beständen. Dies rührt aber vor allem daher, dass unbehandelte Bestände weit mehr Bäume, darunter viele dünne, enthalten (Abb. 2). Wenn man nur die dicksten Bäume betrachtet, sind die Unterschiede gering.

Im Teil 1 zeigte der Autor, dass in der heutigen wirtschaftlichen Situation Investitionen nur noch für die Bäume des Endbestandes gerechtfertigt sind (Konzentrationsprinzip). Es ist somit legitim, vorerst nur die dicksten Bäume, welche zusätzlich eine gute Qualität aufweisen, zu betrachten: Die sogenannten Kandidaten. Unter diesem Blickwinkel erhält ein unbehandelter Bestand eine völlig andere Bewertung: Solange genügend Kandidaten vorhanden sind, ist das Produktionsziel nicht gefährdet und es braucht keinen Eingriff.

Anzahl Kandidaten, Kronenlänge und Durchmesserzuwachs

Die Kandidaten sind in ungepflegten Beständen zufällig verteilt (Abb. 3). Um 200 Z-Bäume in regelmässiger Verteilung auswählen zu können, ist deshalb eine etwas höhere Anzahl Kandidaten notwendig. Die Erfahrung in den unbehandelten Beständen zeigt, dass die doppelte Anzahl, also 400 Kandidaten pro Hektare, ausreichend ist. Diese kritische Anzahl Kandidaten wird bei einer Oberhöhe von 25 m erreicht. Für Bonität 30 (gute bzw. normale Mittelland-Standorte) entspricht dies einem Alter von rund 40 Jahren. Die gesamte Stammzahl (alle noch lebenden Bäume) beträgt dann rund 2500 pro Hektare, also ist immerhin jeder sechste Baum ein Kandidat.

Trotz Pflegeverzicht haben die Kandidaten bei einer Oberhöhe von 15 m (Alter 25 bei Bonität 30) eine mittlere Kronenlänge von 50%. Bei Oberhöhe 20 m (Alter 32) beträgt die mittlere Kronenlänge noch 40%, solche Bäume haben eine genügende Vitalität. Präzise Messungen der Kronenlängen und die Betrachtung nicht aller Bäume, sondern nur des entscheidenden Teilkollektivs der Kandidaten, widerlegen damit das Vorurteil der kurzkronigen Bäume in ungepflegten Fichtenbeständen. Bei Oberhöhe 30 m (Alter 50) beträgt die mittlere Kronenlänge noch 33%, also ein Drittel. Dies ist zwar immer noch erstaunlich viel, doch erscheinen aus Sicht der Vitalität und Reaktionsfähigkeit frühere Ersteingriffe ratsam.

Auch der Durchmesserzuwachs ist ein Kriterium. Die folgenden Angaben gelten für Bonität 30: Ohne Eingriffe beträgt der mittlere BHD der Kandidaten 25 cm im Alter 40 und 35 cm im Alter 60. Bei Ersteingriffen ab Alter 20 erreichen die Z-Bäume den Zieldurchmesser (60 cm) bereits in 80 bis 100 Jahren. Falls die Zeitspanne ohne Eingriffe auf 40 Jahre ausgedehnt wird, wird der Zieldurchmesser im Alter von 100 bis 120 Jahren erreicht. Ein noch späterer Eingriffsbeginn bewirkt ein zunehmend reduziertes Durchmesserwachstum, wodurch geringere Durchmesser erreicht werden, oder aber die Umtriebszeit (mit entsprechenden Risiken) erhöht werden müsste.

Die Analyse ergibt somit, dass auch vollständig unbehandelte Fichtenbestände bis zu einer Oberhöhe von rund 20 m eine Entwicklung zeigen, die im Einklang mit der Zielsetzung steht.

Spezielle Struktur dank Nicht-Behandlung

Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die mechanische Stabilität gegenüber Schneebruch. Dabei spielt die spezielle Struktur unbehandelter Fichtenbestände eine wichtige Rolle.

Die maximale Dichte und Konkurrenz in ungepflegten Fichtenbeständen führt zu einer fortlaufenden sozialen Differenzierung. Nur die stärksten und vitalsten Bäume können als Herrschende in der Oberschicht bleiben. Die schwächeren Bäume sind mitherrschend oder beherrscht. Je tiefer die soziale Stellung, desto rascher die negative Umsetzung, bis zum Absterben der Unterdrückten. Dieser Differenzierungsprozess führt zu einer dauernden natürlichen Mortalität und bewirkt eine (kostenlose) Stammzahlabnahme (Abb. 1).

Parallel zur sozialen Differenzierung stellt sich auch eine Durchmesser- und Höhendifferenzierung ein: Die Vorherrschenden und Herrschenden sind die höchsten und dicksten (und damit auch stabilsten) Bäume (Abb. 4). Damit zeigt auch die Natur ein Vorgehen nach dem Konzentrationsprinzip. Als positive Folge davon sind die wuchskräftigsten Bäume klar erkennbar.

Die spezielle Struktur ist die Grundlage für das Funktionieren von Naturautomation und damit für Konzepte mit biologischer Rationalisierung. Dass diese gute Selbstdifferenzierung durch "Nichtstun" zu Stande kommt, ist für viele paradox. Dieser Effekt ermöglicht in der Kombination mit späteren, gezielten Eingriffen die äusserst kostengünstigen neuen Produktionskonzepte.

So funktioniert die Naturautomation konkret

Je höher die soziale Stellung und damit die Vitalität eines Baumes, desto grösser die Chance, dass er sich selber durchsetzen kann. Diesen Zusammenhang macht sich die biologische Rationalisierung zunutze. Ein starker herrschender oder noch besser ein vorherrschender Z-Baum braucht viel weniger Hilfe (Pflegeaufwand), auch ist das Risiko eines Ausfalls viel geringer.

Eine möglichst hohe soziale Position ist deshalb bei der Auswahl der Z-Bäume das wichtigste Kriterium. Im Unterschied zur früheren Auslesedurchforstung müssen Z-Bäume unbedingt herrschend sein, weil die Förderung mitherrschender Bäume einen viel höheren Aufwand verursacht und trotzdem oftmals nicht zum Erfolg führt.

Nicht nur die soziale Stellung der Z-Bäume, sondern auch diejenige der restlichen Bäume ist entscheidend für das Funktionieren der biologischen Rationalisierung. In den untersuchten Beständen sind nur rund 20% bis 30% der Bäume herrschend oder vorherrschend. 70% bis 80% aller Bäume sind mitherrschend, beherrscht oder unterdrückt. Weil beherrschte und unterdrückte Bäume keine Konkurrenten sind und auch die Mitherrschenden nicht oder nur schwach konkurrenzieren, hat ein herrschender Z-Baum in einem unbehandelten Fichtenbestand nur wenige (1 bis 2) echte Konkurrenten. Aus diesem Grund lassen sich in unbehandelten Beständen bereits mit einem schwachen Eingriff alle echten Konkurrenten eliminieren.

Die Naturautomation funktioniert also, indem man Unterschiede in der sozialen Stellung gezielt ausnutzt. Dies erfolgt einerseits durch die Auslese der Z-Bäume beim Ersteingriff: Durch die möglichst hohe soziale Position der Z-Bäume wird ein natürlicher Konkurrenzvorteil der Z-Bäume angestrebt. Durch einen gezielten Eingriff (Elimination der echten Konkurrenten) ergibt sich ein weiterer sozialer Vorteil: Weil der vitalste Baum (=Z-Baum) innerhalb einer Durchforstungszelle auch am meisten reagieren kann, werden sich die sozialen Unterschiede in Zukunft automatisch verstärken. Dieser eigendynamische Prozess wird als spezielle Naturautomation bezeichnet. Dies erlaubt nicht nur sehr schwache und damit kostengünstige, sondern auch weniger Eingriffe: Anstatt wie bisher 8 bis 10, sind nur noch 2 bis 3 Eingriffe notwendig.

Auf Eingriffe im Füllbestand (d.h. in den Zellen zwischen den Z-Bäumen) wird bewusst verzichtet. Dies einerseits aus Kostengründen, aber auch wegen der Naturautomation: Mit Eingriffen zwischen den Z-Bäumen würden nur spätere Konkurrenten der Z-Bäume gefördert, wodurch nachfolgend ein höherer Aufwand entsteht. Dieser Effekt ist unerwünscht, weil dadurch die Naturautomation reduziert wird.

Die spezielle Naturautomation

Die Funktionsweise der speziellen Naturautomation kann am Beispiel der Niederdurchforstung erklärt werden, welche eine umgekehrte Wirkung hat: Durch die Entnahme der schwächsten Bäume werden die sozialen Unterschiede reduziert. Das flächige Eingreifen fördert alle Bäume, die Differenzierung wird behindert bzw. aufgehoben. In einem niederdurchforsteten Bestand hat ein Z-Baum ausschliesslich starke Nachbarn. Bei einem Eingriff profitiert nicht nur der Z-Baum, sondern auch die anderen Nachbarn des entnommenen Baumes. Dadurch sind auch später immer wieder starke Eingriffe notwendig; der Steuerungsaufwand ist sehr viel höher.

Streitfrage Schneebruchstabilität

Aufgrund der extrem hohen Dichte in unbehandelten Beständen sind die meisten Fichten sehr schlank. Dies gilt vor allem für die beherrschten und mitherrschenden Bäume. Trotzdem enthalten auch Bestände, welche jahrzehntelang unbehandelt waren, einzelne stabile Bäume, welche zufällig auf der ganzen Fläche verteilt sind. Diese werden Gerüstbäume genannt und sind für die Stabilität von grosser Bedeutung.

Neben den Gerüstbäumen ist die kollektive Stabilität das zweite wichtige Element. Allerdings fordert die waldbauliche Lehrmeinung der letzten Jahrzehnte bei der Fichte die individuelle Stabilisierung aller Bäume durch frühe, flächige und wiederholte Pflegeeingriffe. Aus dieser Sicht ist ein zeitweiliger Pflegeverzicht bei Fichte nicht zu verantworten, so dass Konzepte der biologischen Rationalisierung gar nicht erst in Frage kommen. Nach neueren Erkenntnissen wird aber die kollektive Stabilität stark unterschätzt:

  • Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass bei sehr hoher Bestockungsdichte weniger Nassschneeschäden auftreten, weil die einzelnen Bäume eine geringere Bewegungsfreiheit haben und sich gegenseitig gut abstützen.
  • Ein wichtiger Hinweis für das Funktionieren der kollektiven Stabilität ist die Tatsache, dass die Fichtenbestände, welche heute hiebsreif sind, vor rund 80 bis 100 Jahren als Stangenhölzer noch kaum aktiv durchforstet wurden, und trotzdem noch exisitieren.
  • Nicht jeder gebogene oder gebrochene Baum ist ein Schaden; erst wenn Z-Bäume ausfallen, kann von einem wirtschaftlichen Schaden gesprochen werden.
  • Auch in "normalen" Beständen werden durch die Destabilisierung nach Eingriffen erhebliche Risiken eingegangen, dies gilt speziell nach starken und flächigen Eingriffen; kein Bestand ist vor Nassschneeschäden absolut sicher.
  • Das Eingehen eines möglicherweise höheren Risikos ist auch ökonomisch durchaus legitim, indem die höheren Risikokosten durch die massive Einsparung von Pflegekosten mehr als aufgewogen werden.

Geht man davon aus, dass die kollektive Stabilität funktioniert, so haben auch unbehandelte Bestände eine genügende Gesamtstabilität. Allerdings gilt dies nur, solange die hohe Dichte (und damit die gute kollektive Stabilität) vorhanden ist. Nach starken Eingriffen (z. B. durch Vollernter mit gleichzeitiger Anlage von Rückegassen) geht die kollektive Stabilität schlagartig verloren. In unbehandelten Beständen kann deshalb nicht beliebig eingegriffen werden, sondern es sind nur schwache Eingriffe vertretbar. Dies wird am besten dadurch erreicht, dass nur die echten Konkurrenten der Z-Bäume entfernt werden: In den Zwischenzellen soll die kollektive Stabilität durch keinerlei Entnahmen zerstört werden. Zu beachten ist, dass die Aussagen zur Stabilität nicht auf Wälder mit Schutzfunktion angewandt werden dürfen – untersucht wurden ausschliesslich Bestände im Mittelland mit Hauptfunktion Holzproduktion.

Logisches Vorgehen beim Ersteingriff

Die Betrachtung der Stabilität führt damit zu den genau gleichen Schlüssen wie die Analyse der Konkurrenzsituation: Auslese der Z-Bäume im Endabstand, Entfernung nur der echten Konkurrenten, kein Eingriff im Füllbestand. Diese Art der Eingriffe ist auch ökonomisch zu favorisieren (geringster Aufwand). Weil solche Eingriffe, falls sie nicht zu spät gemacht werden, nur schwach sind (z. B. bei Oberhöhe 15 m rund 10% der Grundfläche), kann von einer minimalen Destabilisierung ausgegangen werden.

Weil mit zunehmender Dauer unbehandelter Entwicklung das Risiko zunimmt, und in älteren Beständen die Entfernung der echten Konkurrenten zu stärkeren Eingriffen (mit grösserer Destabilisierung) führt, wird eine allzu lange Phase unbehandelter Entwicklung nicht empfohlen. Obwohl sich Fichtenbestände auch ohne Eingriffe bis zu einer Oberhöhe von 20 m zielgemäss entwickeln, empfiehlt sich deshalb aus Sicht der Stabilität ein früherer Eingriff, bei Oberhöhe 15 m. Dies entspricht bei guter Bonität einem Alter von 25 Jahren.

Noch frühere Eingriffe sind aufgrund der erschwerten Begehbarkeit und Übersichtlichkeit nachteilig; auch brauchen die Bestände ja eine gewisse Zeitspanne ohne Eingriffe, damit sich die gewünschte Differenzierung einstellt. Bei diesem Eingriffszeitpunkt (Oberhöhe 15 m) – und vorausgesetzt, es wird das hier vorgeschlagene Vorgehen angewendet – kann man davon ausgehen, dass im Vergleich zu gängigen Konzepten kaum ein erhöhtes Risiko besteht.

Weitere Bestandesentwicklung

In einem zweiten Eingriff im Alter von rund 40 Jahren (Altersangaben für Bonität 30) werden die restlichen noch vorhandenen, echten Konkurrenten entfernt. Der soziale Unterschied zwischen Z-Bäumen und Füllbestand verstärkt sich zunehmend, so dass ein dritter Eingriff nicht mehr unbedingt notwendig ist. Die Z-Bäume werden individuell stabiler, dadurch nimmt die Bedeutung der kollektiven Stabilität zugunsten der individuellen Stabilität ab.

Bei Kostendeckung kann in einem dritten und letzten Eingriff der noch vorhandene Füllbestand geerntet werden. Weil die Stabilität unterdessen gut ist, kann dieser letzte Eingriff mit dem Harvester gemacht werden (ca. Alter 60). Selbstverständlich sollte man dernVerlauf der Rückegassen bereits vor dem Ersteingriff festlegen, damit später keine Z-Bäume auf Rückegassen stehen. Dieser dritte Eingriff wäre – unter heutigen Verhältnissen – nicht nur kostendeckend, sondern sogar profitabel. Das neue Produktionskonzept für Fichte ist in Abbildung 5 zusammengefasst.

Ökonomische Auswirkungen

Mit diesem grundlegend neuen Konzept der biologischen Rationalisierung für Fichte, basierend auf Konzentrationsprinzip und Naturautomation, lassen sich hiebsreife Fichtenbestände mit nur drei Eingriffen erziehen. Bei einem Zeitaufwand von je 10 Stunden pro Hektare für die beiden ersten, nicht kostendeckenden Eingriffe ergeben sich Gesamtkosten von 20 x CHF 60.(Forstwart mit leichter Motorsäge), also CHF 1200.– pro Hektare; Kosten, welche um den Faktor 10 bis 20 tiefer liegen als die bisherige, intensive Fichtenwirtschaft mit Kosten von CHF 10'000.– bis CHF 20'000.– pro Hektare. Möglicherweise geht diese enorme Einsparung zu Lasten eines etwas höheren Nassschneerisikos.

Es ist davon auszugehen, dass sich das gebremste Dickenwachstum durch den Dichtstand in der Jugend auf die Holzqualität positiv auswirkt. Selbstverständlich können die Z-Bäume auch wertgeastet werden, falls diese zusätzliche Investition sinnvoll erscheint. Bei diesem neuen Fichten-Produktionskonzept handelt es sich weder um eine Notlösung, noch um ein hilfloses "Nichtstun" oder Hinausschieben von Durchforstungen, noch um die Produktion von Massenware, sondern um eine zielstrebige Qualitätsholzproduktion mit wenig Vornutzungen und einem hohen Anteil an profitabler Endnutzung.

(TR)