Im Waldgebiet Muskauer Heide, etwa 3 km westlich der Stadt Weißwasser befindet sich das ehemalige Naturschutzgebiet "Urwald Weißwasser", das bereits im Beitrag "Erhaltung und Nutzung forstgenetischer Ressourcen für die forstliche Rekultivierung von Bergbaufolgelandschaften" beschrieben wurde. Neben der Waldkiefer (Pinus sylvestris L.) und der Traubeneiche (Quercus petraea [Matt.] Liebl.) ist die Gemeine Fichte (Picea abies [L.] Karst.) eine Charakterbaumart auf den grundwassernahen Standorten des Gebietes.

Die Gemeine Fichte

Die Gemeine Fichte befindet sich in diesem Waldgebiet am Nordrand ihres herzynisch-karpatischen Teilareals und hat in dem spätfrostgefährdeten Lausitzer Flachland eine spätaustreibende Lokalklimapopulation ausgebildet, die als "Lausitzer Tieflandsfichte" bezeichnet wird. Morphologisch wird sie als Plattenfichte mit walzenförmiger Krone und breiten fächerartigen Zweigen mit waagerechten Astansatzwinkeln beschrieben. Sie zeichnet sich durch wenige Äste im oberen Kronendrittel und relativ kurze Nadeln aus. Diese Besonderheiten wurden durch die Ausweisung eines eigenen Herkunftsgebietes "Niederlausitz – 840 03" für die Baumart Fichte berücksichtigt.

Genetische Ressource von herrausragender Bedeutung

Im Gebiet des ehemaligen Naturschutzgebietes "Urwald Weißwasser" sowie der umliegenden Bestände waren 126 ha Fichten-Vorkommen (davon 47 ha reine Fichte) als "Wald mit besonderer Generhaltungsfunktion" ausgewiesen. Diese Population stellt als größtes zusammenhängendes und wahrscheinlich autochthones Vorkommen der "Lausitzer Tieflandsfichte" eine genetische Ressource von herausragender Bedeutung dar, deren Existenz mit der Inanspruchnahme des Gebietes durch den Tagebau Nochten extrem gefährdet ist.

Durch die Anpassung an das kontinental beeinflusste Klima des Wuchsortes mit Spätfrösten, trockenen und heißen Sommern sowie plötzlichen Temperaturänderungen, das typisch für weitere Teile Nordost-Sachsens und Südbrandenburgs ist, kommt der Erhaltung der Vorkommen auch überregionale Bedeutung zu

Im Rahmen eines von der Vattenfall Europe Mining AG finanzierten Projektes wurden gemeinsam mit dem Staatsbetrieb Sachsenforst (SBS) Maßnahmen zur Sicherung des genetischen Potentials der drei für das Untersuchungsgebiet charakteristischen Baumarten gebündelt, evaluiert und vervollständigt. Hier sind die Maßnahmen zur Evakuierung der Tieflandsfichte dargestellt.

Zur Sicherung eines repräsentativen Ausschnittes aus dem genetischen Potential des Vorkommens der "Lausitzer Tieflandsfichte" wurde ein beträchtlicher Teil der Altbaumgeneration für die Anlage einer Erhaltungssamenplantage abgepfropft. Vorhandene Tieflandsfichten-Herkunftsversuche wurden genutzt, um die Stellung und Bedeutung des Vorkommens "Urwald Weißwasser" in der Gesamtpopulation der "Niederlausitzer Tieflandsfichte" zu untersuchen. Dazu erfolgte ein Vergleich der Nachkommenschaften verschiedener Niederlausitzer Tieflandsfichten-Herkünfte und einer Samenplantage an phänotypischen und genetischen Merkmalen.

Phänotypische Untersuchungen

Für die phänotypischen Untersuchungen standen die Nachkommenschaften von 19 Tieflandsfichten-Herkünften aus Nordost-Sachsen und Südbrandenburg (18 Bestände, eine Samenplantage) sowie von zwei Vergleichs-Herkünften (Carlsfeld, Abtsgemünd) aus anderen Teilen des Verbreitungsgebietes (Erzgebirge, Schwäbisch-Fränkischer Wald) zur Verfügung. Die frei abgeblühten Nachkommenschaften sind Bestandteil eines Tieflandsfichten-Herkunftsversuches, der seit 1998 auf insgesamt vier Versuchsflächen in Brandenburg und Sachsen durchgeführt wird. Auf allen Versuchsflächen erfolgte im Winterhalbjahr 2007/08 (Pflanzenalter 14 Jahre) eine Vollaufnahme der Ausfälle sowie der Höhen- und Durchmesserentwicklung zur Einschätzung der Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit der Herkünfte. Die Erfassung des Austriebsverhaltens der untersuchten Nachkommenschaften erfolgte auf der Versuchsfläche Hoyerswerda an sieben Terminen im Frühjahr 2009 (Pflanzenalter 15 Jahre). An den Aufnahmeterminen wurde der Austriebszustand an 50 Pflanzen je Nachkommenschaft mit einer sechs-stufigen Skala erfasst. Ebenfalls auf der Versuchsfläche Hoyerswerda fand am Ende der Vegetationsperiode 2009 die Entnahme jeweils eines vierjährigen Seitenzweiges von je 10 Pflanzen jeder Herkunft mit einem standardisierten Verfahren statt. An den vier Triebabschnitten der Jahre 2006 bis 2009 eines jeden Seitenzweiges wurden die Merkmale Trieblänge, Triebanzahl, Verzweigungsabstand, die Position der Verzweigung sowie Knospen- und Nadelmerkmale erhoben.

Biochemisch-genetische Analysen

Aus dem Vorkommen "Urwald Weißwasser" wurden insgesamt 200 Altfichten untersucht, von denen 68 Proben in dem Kollektiv "Plantagenklone" zusammengefasst wurden und 131 weitere als "Baumnummern", die 31 Klone mit weniger als drei Ramets und 100 weitere Individuen enthielten, die nicht veredelt wurden. Mit Hilfe dieser zweiten Stichprobe sollte die Repräsentativität der künftigen Samenplantage für das gesamte Vorkommen eingeschätzt werden. Außerdem wurden eine Nachkommenschaft des Vorkommens "Urwald Weißwasser" und neun weitere Nachkommenschaften aus dem Tieflandsfichten-Herkunftsversuch einbezogen, um die genetische Variation der Fichte aus dem "Urwald Weißwasser" in die der "Lausitzer Tieflandsfichte" einzuordnen. In einigen Fällen standen Ergebnisse von bereits früher untersuchten Altbeständen und einer Samenplantage zur Verfügung.

Für den Vergleich der genetischen Variation innerhalb der verschiedenen Kollektive des "Urwald Weißwasser" wurden 17 Genorte berücksichtigt, die genetische Variation zwischen allen untersuchten Stichproben umfasst 10 Genorte (s. Abb. 7). Die genetische Variation innerhalb der verschiedenen Stichproben des Fichten-Vorkommens "Urwald Weißwasser" ist in folgender Tabelle dargestellt.

Schlussfolgerungen aus den phänotypischen Untersuchungen

Die Ergebnisse der phänotypischen Untersuchungen bestätigen grundsätzlich die bei vergleichbaren Untersuchungen vorgefundene Variabilität der Fichte in einer Vielzahl von Merkmalen und Eigenschaften. Obwohl die untersuchten Tieflandsfichten-Herkünfte aus einem relativ eng begrenzten Gebiet kommen, kann bei einer Reihe von Merkmalen eine große Variation festgestellt werden. Eine eindeutige Unterscheidung der Tieflandsfichten-Herkünfte von den Vergleichsherkünften aus dem Erzgebirge und dem Schwäbisch-Fränkischen Wald ist bei keinem Merkmal gelungen.

Andererseits konnten bei einer Reihe von Herkünften durchaus charakteristische Merkmale des Tieflandsfichtentyps festgestellt werden. Hierzu gehören der späte Austrieb, eine geringe Nadellänge, eine kleine Nadelkennzahl nach PFAUCH sowie eine geringe Seitentrieblänge und eine geringe Seitentriebanzahl.

Verschiedene Herkünfte

Vor allem die Herkünfte Laußnitz, Leippe, Krauschwitz oder See besitzen die genannten Merkmale. Die Nachkommenschaft Trebendorf, die dem Vorkommen Urwald Weißwasser entstammt, besitzt bei einer Reihe von Merkmalen eine intermediäre Ausprägung, bei einer Reihe anderer Merkmale eine klare Tendenz zum Tieflandsfichtentyp. Dagegen zeigt die Herkunft Milstrich in nahezu allen beobachteten Merkmalen keine Hinweise auf die Zugehörigkeit zum Tieflandsfichtentyp. Auffällig sind ebenfalls die Herkünfte Samenplantage Neschwitz und Skerbersdorf, die zum Teil widersprüchliche Merkmalsausprägungen aufweisen. Die Ergebnisse der Versuchsanbauten weisen bei der Herkunft Trebendorf auf eine überdurchschnittliche Vitalität, ausgedrückt durch ein überdurchschnittliches Höhenwachstum auf allen Versuchsstandorten bei einer durchschnittlichen Stabilität hin.

Grundsätzlich ist bei den dargestellten Ergebnissen nicht auszuschließen, dass ursprünglich vorhandene, im Laufe der Evolution natürlich entstandene Variationsmuster durch anthropogene Einflüsse überlagert worden sind. Weiterführende Untersuchungen vor allem zur Bestandesgeschichte der untersuchten Vorkommen könnten eine wichtige Ergänzung für die Interpretation der Ergebnisse darstellen.

Schlussfolgerungen aus den genetischen Untersuchungen

Das Tieflandsfichten-Vorkommen "Urwald Weißwasser" und das räumlich am nächsten gelegene Vorkommen "Braunsteich" mit allen untersuchten Stichproben weisen sehr geringe genetische Abstände zueinander auf, was auf große Ähnlichkeit schließen lässt. Die Differenzierung beider Populationen vom jeweiligen Komplement der anderen untersuchten Vorkommen ist sehr gering, so dass von einer großen Repräsentanz des gesamten Genpools der "Lausitzer Tieflandsfichte" auszugehen ist. Diese Erkenntnis und eine überdurchschnittliche Anzahl seltener Allele im Vorkommen "Urwald Weißwasser" unterstreichen besonders eindrucksvoll die immense Bedeutung dieser Population für das genetische Potential des regionalen Genpools der "Lausitzer Tieflandsfichte".

Großes genetisches Potential

Die für die Generhaltungs-Samenplantage vorgesehenen Klone repräsentieren das Gesamtvorkommen "Urwald Weißwasser" in hohem Maße. Trotz etwas geringerer Vielfaltswerte wird in den Parametern der Diversität ein großes genetisches Potential deutlich. Die geringe Subpopulationsdifferenzierung lässt auf sehr ausgeprägte Ähnlichkeit zwischen dem Tieflandsfichtenvorkommen Weißwasser und der zukünftigen Samenplantage schließen.

Die Ergebnisse zeigen aber auch zweierlei deutlich:

  • Die notwendige künstliche Auswahl von Individuen für die Samenplantage muss zwangsläufig zu einer Verringerung genetischer Variation führen (nicht alle Allele werden mit erfasst). Durch das Design der Plantage wird es in jedem Fall zu Verschiebungen in den genetischen Strukturen gegenüber einer natürlich entstandenen Verjüngung kommen (Häufigkeitsveränderungen durch Überrepräsentanz bestimmter Allele bzw. Genotypen), deren Bedeutung für das Anpassungspotential der Nachkommenschaften nicht beurteilt werden kann.
  • Andererseits gibt die vorliegende Untersuchung Anlass zu der Hoffnung, dass es mit Hilfe der geplanten Samenplantage möglich sein wird, Vermehrungsgut zu erzeugen, das wesentliche Bestandteile des genetischen Potentials der Tieflandsfichten-Vorkommen "Urwald Weißwasser" für die Zukunft erhält und für den Wiederaufbau von Wäldern in der Region bereitstellt. Die Erhaltung aller für die Samenplantage vorgesehenen Klone ist dabei von großer Wichtigkeit.