Über einige Jahrhunderte stellte der Wald eine willkommene Nahrungsquelle für Nutztiere dar. Ziegen, Schafe, Schweine und Rinder frassen neben Kräutern, Gräsern und Laub auch Eicheln, Bucheckern und Rinde. Im Herbst wurde das Laub für die Winterfütterung oder als Düngung für die Äcker genutzt. Die damaligen Nutztierrassen waren wesentlich robuster als heutige, da ihre Milchleistung noch nicht so im Vordergrund stand. In Notsituationen liess man die Tiere bis weit in die Vegetationsruhe hinein in den Wäldern. Infolge dieser intensiven Nutzung und der Verwendung von Holz zu Bau- und Heizzwecken waren die Wälder wesentlich lichter und offener als heute.

Ein Blick zurück…

Die Übernutzung des Waldes sowie Naturkatastrophen führten dazu, dass man die Schutzfunktion der Wälder sowie das Schadenpotenzial einer grossflächigen Waldbeweidung erkannte. Mit dem Forstpolizeigesetz von 1902 wurde die Waldweide als "nachteilige Nutzung" verboten. Die Plünderung des Waldes führte neben den erwähnten negativen bis verheerenden Auswirkungen aber auch dazu, dass sich ein ungeheurer Artenreichtum an Tieren und Pflanzen einstellte. Insbesondere licht- und wärmebedürftige Arten profitierten.

Infolge des Verbots sowie veränderter gesellschaftlicher Bedürfnisse an den Wald wurden die Wälder sukzessive vorratsreicher und damit dunkler. Ehemalige Nieder- und Mittelwälder wurden von Hochwäldern abgelöst, was einen Lebensraumverlust für licht- und wärmebedürftige Tier- und Pflanzenarten bedeutete. Heute sind lichte Wälder Mangelware. Meist versucht man diese Relikte von einst traditionell beweideten Waldtypen auf wenig produktiven, sehr trockenen oder vernässten Standorten mittels aufwändiger Pflege zu erhalten.

Zielsetzungen und rechtlicher Rahmen

Gemäss den Zielsetzungen des Naturschutzprogramms Wald im Aargau sollen bis 2020 auf drei Prozent der Waldfläche gezielte Aufwertungsmassnahmen zugunsten wärme- und lichtbedürftiger Arten ausgeführt sowie eine periodische Pflege dieser Standorte sichergestellt werden. Von solchen Massnahmen profitieren insbesondere Reptilien, Amphibien, Insekten, Orchideen und Felsenpflanzen.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass diese Aufwertungen zum einen sehr kostenintensiv sind, zum anderen muss anfallendes Schnittgut vor Ort deponiert oder teuer entsorgt werden. Daher wurden nachhaltigere Lösungen für die Schaffung und Erhaltung lichter Wälder gesucht und in der Pflegemethode Waldweide gefunden.

Mit der Waldweide soll einerseits die aufwändige Handarbeit in dazu geeigneten, bis anhin gemähten Föhrenwäldern abgelöst und andererseits das "Entsorgungsproblem" elegant gelöst werden. Als weiteres Ziel strebt man einen grösseren Arten- und Strukturreichtum an. Mit der Beweidung können zusätzlich zu den bestehenden, meist isolierten, kleinflächigen Naturschutzgebieten neue artenreiche Lebensräume entstehen, die sich durch eine spontane, zufallsbedingte und ökologisch wertvolle Dynamik auszeichnen. Mit Lesestein- und Asthaufen sowie Gebüschgruppen, Altgrasbeständen und offenen Bodenstellen entsteht ein eigenständiger Lebensraumtyp mit typischen Tier- und Pflanzenarten. Mit der Beweidung stellt man zudem sicher, dass ein Wiedereinwachsen und Verbuschen von lichten Flächen weitgehend unterbleibt.

Das aargauische Waldgesetz erlaubt, in Ausnahmefällen "nachteilige Nutzungen" wie die Waldweide mit Naturschutzzielen zu bewilligen. Eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche in den Wald ist nicht zulässig.

Erfahrungen aus zehn Jahren

Um erste Erfahrungen mit der Beweidung von Wald zu Naturschutzzwecken im Kanton Aargau zu sammeln, wurden zwischen 1997 und 2006 insgesamt zehn Pilotprojekte durchgeführt. 2007 wurden die bisherigen Erfahrungen ausgewertet und die Erkenntnisse in einem Bericht zusammengefasst.

Bei verschiedenen Projekten hat Pro Natura Aargau Pionierarbeit geleistet und Projekte initiiert, geeignete Flächen oder Tierhalter gesucht und zahlreiche Waldweiden in eigener Regie geführt. Mittlerweile nutzen auch andere Trägerschaften die Möglichkeiten dieser ausserordentlichen Nutzungsform.

Skudde, Galloway und Co.

In den Weideprojekten nutzte man verschiedenste Tierarten und -rassen. Neben Ziegen- und Rinderrassen kamen auch Wasserbüffel, Wollschweine und Skudde-Schafe zum Zug. Am häufigsten setzte man Galloway- Rinder und Ziegen in den Pilotprojekten ein. Jede Tierart hat ihre besonderen Eigenschaften und Vorlieben: So eignen sich Rinder vor allem für das Abweiden eines grasigen Bewuchses. Sie fressen auch Laub, verbeissen die Gehölze aber nicht. Wasserbüffel bewährten sich für die Beweidung von Feuchtgebieten mit Schilf- und Seggenbeständen, vorkommende Gehölze wurden ebenfalls nicht nachhaltig geschädigt. Ziegen hingegen verbeissen und schälen Gehölze gut. Um eine sich einstellende Verbuschung zurückdrängen zu können, ist jedoch ein intensives Beweidungsregime mit vielen Tieren über einen längeren Zeitraum nötig. 2007 startete auch ein Projekt mit einer gehirteten Ziegenherde. Unter der Aufsicht von Zivildienstleistenden verrichten die Ziegen tagsüber ihre Arbeit als Naturschutzmitarbeitende, die Nächte verbringen sie in einer Koppel.

Schwierigkeiten

Die Beschaffung der robusten Weidetiere ist nicht immer einfach. Vor allem Ziegenherden sind rar. Das oft karge Futter auf den Waldweiden ist der Milch- und Fleischproduktion zudem nicht besonders zuträglich. Da die Waldweiden fast über den ganzen Kanton verteilt sind, müssen die Tiere von Weide zu Weide transportiert werden. Neben den Wanderherden, die im Herbst und Winter durch unsere Landschaften ziehen, sind auch "fahrende" Wanderherden entstanden.

Verglichen mit dem Ausland sind die Aargauer Waldweiden flächenmässig eher klein bis sehr klein (0,3 bis 2,5 Hektaren). Dies hat zum einen mit der anfänglichen Skepsis gegenüber dieser Pflegemethode, zum anderen mit den kleinstrukturierten Landschaften des Mittellandes, den zur Beweidung geeigneten Waldtypen sowie den Eigentumsverhältnissen zu tun. Beweidet wurden vor allem Föhrenwälder, mittlere Buchenwälder und feuchte Eschenmischwälder. Als Besonderheit sind ein Eichenmischwald sowie eine Aufforstungsfläche zu erwähnen.

Facettenreiches Weideregime

In allen Projekten fand die Beweidung während der Vegetationszeit statt. Der Weidezeitpunkt ist so zu legen, dass alternierend früh und spät blühende Pflanzen wie beispielsweise Orchideen zur Blüte und zur Produktion von Samen kommen können. Ein interessanter Ansatz dürfte darin liegen, dass auf den Weiden jedes Jahr zu einem anderen Zeitpunkt geweidet wird, damit einmal Früh-, in einem anderen Jahr die Spätblüher profitieren. Die beweideten Gebiete zeigen einen grossen Strukturreichtum (Altgrasflächen, Gebüschgruppen, Asthaufen, Wurzelstöcke etc.).

In einigen Pilotprojekten zeigte sich, dass trotz Beweidung die Verbuschung voranschreitet. Dort gilt es abzuwägen, ob mit einer sporadischen Pflege von Hand Gehölze zurückgedrängt oder die Intensität der Beweidung gesteigert werden sollen, was wiederum negative Auswirkungen auf seltene Arten haben könnte.

Oft ist eine Auflichtung der zu beweidenden Waldgebiete nötig, bevor überhaupt mit einer Beweidung gestartet werden kann. Auf vorgelichteten Flächen ist von Beginn an ein starker Weidedruck nötig, damit Stockausschläge nicht überhandnehmen und zu einer erneuten Verdunkelung der lichten Wälder führen.

Über die Weideprojekte wurde jeweils lokal durch die Gesuchstellenden informiert. Diese Massnahmen haben sicherlich dazu beigetragen, Akzeptanz für die Waldweide zu schaffen. Aus der Bevölkerung sind überwiegend positive Rückmeldungen zu den Waldweideprojekten eingegangen.

Nur für wenige Pilotprojekte wurden systematische Erfolgskontrollen durchgeführt. Für ein Projekt wird ab 2008 eine umfangreiche Erfolgskontrolle unter Einbezug verschiedener Tier- und Pflanzenarten durchgeführt. Um fundierte Aussagen über den Erfolg dieser Pflegemethode machen zu können, sollten Aufnahmen über längere Zeiträume durchgeführt werden. Die bisherigen Resultate aus Föhrenwäldern stimmen optimistisch: Sowohl die Vielfalt an Arten wie auch die Anzahl Individuen einer einzelnen Art haben sich positiv entwickelt.

Waldweide – wie geht es weiter?

Die gewonnenen Erfahrungen aus den Pilotprojekten sind überwiegend positiv. Die Beweidung von Wald als Pflegemethode führt zu einem neuen Aspekt im aktuellen Spektrum möglicher Naturschutzmassnahmen im Wald: Schaffung von Strukturreichtum über eine Nutzungsart, die nach dem Zufallsprinzip funktioniert. Ab 2008 soll deshalb die Waldweide als "Standardinstrument" des Naturschutzprogramms Wald im Aargau auf geeigneten Standorten eingesetzt werden können. Folgende Punkte sind dabei zu beachten:

  • Die Beweidung von Wald zu Naturschutzzwecken bedarf einer Bewilligung als nachteilige Nutzung. Es wird empfohlen, Waldweidegesuche vor der Einreichung beim Kanton mit allen Beteiligten abzusprechen. Dazu gehören neben den GrundeigentümerInnen und Standortgemeinden auch die lokalen Jagdgesellschaften.
  • Eine Bewilligung kann nur erteilt werden, wenn in den für die Beweidung vorgesehenen Gebieten ein echter Mehrwert aus naturschützerischer Sicht erzielbar ist und nicht ein bereits heute wertvoller durch einen anderen interessanten Artenbestand ersetzt wird. Die Fläche der lichten Wälder soll ausgedehnt werden.
  • Eine dauerhafte Einzäunung von Wald ist nicht möglich. Weidezäune sind jeweils nach dem Ende der Beweidung zu entfernen.
  • Besonders interessant sind Projekte, die strukturreiche Weiden im Offenland mit naturschützerisch wertvollen Flächen im Wald kombinieren. Dabei soll weder Wald zu offener Flur noch Weide zu Wald werden, aber mit dem Aufbrechen harter Grenzlinien entstehen neue, wertvolle Lebensräume.
  • Es sind möglichst grosse Waldweiden anzustreben, da grossflächig beweidete Gebiete mehr naturschutzbiologisch interessante Kleinstandorte garantieren und ein flexibleres Beweidungsregime erlauben.
  • Wo immer möglich sollen lokal ansässige Landwirte ermuntert werden, eigene Herden mit Robustrassen aufzubauen. Dies fördert die Identifikation mit dem Projekt, stellt eine optimale Betreuung der Tiere sicher und macht den Transport der Weidetiere von Ort zu Ort überflüssig.

Die Waldweide als Pflegemethode zur Förderung und Erhaltung lichter Wälder setzt eine intensive Vorbereitung der jeweiligen Projekte voraus. Ansprechpartnerin und Koordinationsinstanz ist die Abteilung Wald des Departements Bau, Verkehr und Umwelt.

GLOSSAR

Niederwald: Historische Waldbauform, bei der Baumarten verwendet werden, die Stockausschläge machen können. Dabei wird in Abständen von 15 bis 30 Jahren der gesamte Waldbestand aus meist dünnen Stämmchen "geerntet", ohne dass neue Bäume gepflanzt werden. Die Regeneration erfolgte dann aus den im Boden verbliebenen Wurzelstöcken und Stümpfen.

Mittelwald: Historische Waldbauform, die aus dem Niederwald entstand. Der Mittelwald ist aus einer gleichaltrigen Unterschicht (der so genannten Hauschicht für Brennholzzwecke) sowie einzeln stehenden, mächtigen Bäumen in der Oberschicht zusammengesetzt. Als besonders beliebte Baum art der Oberschicht galt die Eiche, da sie wertvolles Bauholz lieferte und eine herbstliche Schweinemast ermöglichte.

Hochwald: Waldform, bei der die einzelnen Bäume aus so genannten Kernwüchsen entstehen. Das heisst, die Bäume sind aus einem Samen gewachsen und nicht wie im Niederwald aus einem Stockausschlag entstanden. Der Hochwald ist heute die am weitesten verbreitete Waldform, die sich unter anderem durch grosse Holzvorräte auszeichnet.


Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit der Abteilung Wald des Kantons Aargau.