Die Schweizer Kantone sind gesetzlich verpflichtet, die Wildbestände so zu regeln, dass standortsgemässe Baumarten ohne Schutzvorkehrungen aufkommen. Diese Forderung kann nicht flächendeckend erfüllt werden, denn solange Pflanzen fressende Huftiere vorhanden sind, gibt es an exponierten Stellen (Wintereinstände, früh ausapernde Sonnenhänge, verbissanfällige Waldformen, seltene Baumarten) immer verbissbedingte Verjüngungsschwierig-
keiten.

Das Gesetz wird deshalb so interpretiert, dass die Wildbestandsregelung auf mindestens 75% der Waldfläche eines Kantons zu einem tragbaren Verbiss führen soll, beziehungsweise im Schutzwald auf 90% der Fläche. Diese Interpretation ist sehr grosszügig, bedeutet dies doch, dass im Extremfall in der Schweiz auf bis zu 300'000 Hektaren Wildschäden toleriert werden, welche die oben erwähnte gesetzliche Verpflichtung übersteigen.

Den Kantonen ist es freigestellt, mit welchem Verfahren sie beurteilen, ob der Mindestwert von 75% resp. 90% eingehalten wird. Die Einschätzungen erfolgen gutachtlich und von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Für die Beurteilung wird in vielen Fällen der Zustand der vorhandenen Verjüngung herangezogen. Damit beurteilt man nicht die im Augenblick bestehende Beeinträchtigung des Jungwaldes durch Verbiss, sondern die Verbissbelastung in den vorangegangenen Jahren oder sogar Jahrzehnten.

Verbissprobleme auf 0 bis 45 Prozent der Waldfläche

Der Anteil der Waldfläche mit Verbissproblemen unterscheidet sich von Kanton zu Kanton stark: Er liegt zwischen 0 und 45 Prozent. Die Unterschiede sind zum Teil auf die verschiedenen Beurteilungsverfahren zurückzuführen. Ein interkantonaler Vergleich der Ergebnisse ist deshalb in vielen Fällen nicht möglich. Aus diesem Grund braucht es eine objektive Messgrösse für den Verbiss, der Vergleiche zwischen verschiedenen Regionen ermöglicht.

In Jagdbanngebieten ist die Belastung der Waldverjüngung durch Wildverbiss in der Regel deutlich grösser als ausserhalb der geschützten Flächen.

Objektive Messgrösse für die aktuelle Wildeinwirkung

Neben einer grossflächigen gutachtlichen Übersicht hat inzwischen die Erhebung der Verbissintensität auf sogenannten Indikatorflächen in vielen Kantonen einen festen Platz (Abb. 1). Ob der Wildbestand auf das Nahrungsangebot abgestimmt ist, ist eine Frage des Verhältnisses von konsumierter zu vorhandener Pflanzenmenge. Wenn dieses Verhältnis ein gewisses Mass überschreitet, kommt es zu Veränderungen in der Vegetation.

Die Verbissintensität ist eine Verhältniszahl. Sie ist definiert als Anteil abgebissener Terminaltriebe pro Jahr in Prozenten der Pflanzenzahl im Bereich 10–130 cm. In der Regel wird sie auf einer Teilfläche, einer so genannten Indikatorflächeerhoben, die repräsentativ ist für den Wildraum. Eine Indikatorfläche hat eine Ausdehnung von 30 ha und umfasst wiederum 30 Probeflächen.Die Datengrundlage gilt als gut, wenn pro 500 ha Wald eine Indikatorfläche ausgewiesen ist. Im Idealfall fallen damit vier oder mehr Indikatorflächen auf einen Wildraum.

Heute finden im Schweizer Wald auf insgesamt 219 Indikatorflächen Erhebungen im Intervall von einem oder zwei Jahren statt, wobei der überwiegende Teil der Indikatorflächen in den Kantonen St. Gallen, Thurgau, Appenzell Innerrhoden, Glarus, Zürich und Schwyz eingerichtet ist. Mit der Verbissintensität wird die im Moment gerade aktuelle Einwirkung des Wildes gemessen. Als klar definierte Grösse ist die Verbissintensität ein objektives Mass, das Vergleiche zwischen verschiedenen Regionen erlaubt.

Wildraum: Wildökologisch einheitlicher Planungs-, Bewirtschaftungs- und Kontrollraum für eine bestimmte Wildart. (Aste 1995). Es handelt sich dabei um das ganze Gebiet, das von einer Wildtierpopulation genutzt wird. Eine Wildtierpopulation ist eine Fortpflanzungsgemeinschaft. Das heisst, die Fortpflanzung der Tiere findet zum überwiegenden Teil innerhalb dieses Verbandes statt.

Indikatorfläche: Eine etwa 30 ha grosse Fläche, welche typisch ist für die Wald- und Wildtierverhältnisse im Wildraum. Auf der Indikatorfläche wird ein systematisches Stichprobennetz mit 30 bis 50 permanenten Probeflächen eingerichtet. (Rüegg und Nigg 2003)

Probefläche: Eine kreisrunde Fläche, auf welcher Verjüngung und Verbiss erhoben werden. Auf Indikatorflächen mit viel Verjüngung wird für die Probeflächen ein Radius von 2 m gewählt, auf Indikatorflächen mit wenig Verjüngung ein solcher von 5 m. (Rüegg und Nigg 2003)

Verbissintensität: Anteil Bäumchen im Höhenbereich 10–130 cm, deren Endtriebe im Verlaufe eines Jahres verbissen werden, in Prozenten der Gesamtpflanzenzahl. (Eiberle 1989)

Positive Tendenz in Regionen mit Verbisskontrolle

Gemäss den gutachtlichen Einschätzungen ist vielerorts im Gebirgswald der Mischungsanteil der verbissanfälligen Weisstanne ungenügend. Die Erhebung der Verbissintensität zeigt aber, dass die Beeinträchtigung zuletzt in verschiedenen Regionen zurückgegangen ist.

Gemäss der Auswertung von insgesamt 85 Indikatorflächen aus den Kantonen St. Gallen, Glarus, Zürich, Schwyz und aus dem Berner Oberland wurde der Richtwert (Verbissgrenzwert nach Eiberle und Nigg 1987) bei Vogelbeere und Tanne im Durchschnitt über die Jahre 2000–2008 bei deutlich mehr Indikatorflächen über- als unterschritten (Abb. 2). Die Situation hat sich gegen Ende der Periode verbessert: 2008 ist bei der Vogelbeere die Anzahl der Indikatorflächen mit über- und mit unterschrittenem Richtwert etwa gleich gross. Bei der Tanne sind die Gebiete, in denen der Richtwert überschritten ist, nur noch geringfügig in der Überzahl.

Die meisten Indikatorflächen weisen für Buche und Fichte kein Problem mit dem Verbiss aus. In abgeschwächter Form ist dies auch bei der Esche der Fall. Beim Ahorn gibt es ähnlich viele Indikatorflächen, in denen der Richtwert über- respektive unterschritten ist.

Weitere Ergebnisse aus verschiedenen Untersuchungen

  • Landesforstinventar
    Die Erhebungen des Schweizerischen Landesforstinventars (LFI) zwischen 2004 und 2006 bestätigen die Resultate der Verjüngungskontrollen. Der stärkste Verbiss wird bei der Gruppe "übrige Laubhölzer" festgestellt, in der alle Laubhölzer ohne Ahorn, Buche, Eiche, Esche und Kastanie zusammengefasst sind. Bemerkenswert sind die Feststellungen des LFI, dass der Verbiss an Eiche problematisch ist und dass der Verbiss auf der Alpensüdseite in den vergangenen 10 Jahren stark zugenommen hat.
     
  • Graubünden: Erhebung der Gebiete mit Verjüngungsproblemen
    Der Kanton Graubünden hat bis 2009 fünf Wald-Wild-Berichte ausgearbeitet. Darin sind 109'876 von insgesamt 192'000 ha kantonaler Waldfläche eingehend analysiert. 24'000 ha weisen Verjüngungsprobleme auf, die ganz oder teilweise wildbedingt sind. Auf 2853 ha fällt die Verjüngung wegen Wildverbiss aus und auf weiteren 9467 ist das für mindestens eine Hauptbaumart der Fall. Die Weisstanne nimmt heute nur gerade einen Anteil von 4% des Vorrats ein. Dabei ist sie auf 25% der Waldfläche Hauptbaumart, auf 15% Nebenbaumart und auf weiteren 8% kommt sie vereinzelt vor. Es ist ein erklärtes Ziel, den Anteil dieser Baumart zu erhöhen. Gemäss Lagebeurteilung ist die Abnahme der Verbissintensität die erste Voraussetzung dazu.
     
  • Effor2-Pilotprogramm Wald–Wild
    Im Mai 2000 starteten die Eidgenössische Forstdirektion und die drei Kantone St. Gallen, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden das Effor-2-Pilotprogramm Wald-Wild in welchem die Wildschadenprobleme der Region exemplarisch aufgearbeitet werden sollten. Die Ursache der Wildschadenprobleme ortete man auch hier im Verhältnis von Nahrungsbedarf des Wildes und dem verfügbaren Nahrungsangebot. Durch Senkung des Nahrungsbedarfs durch mehr Abschüsse und durch Erhöhung des Nahrungsangebot mittels einer Vielzahl von Massnahmen zur Lebensraumaufwertung liess sich eine merkliche Verbesserung erzielen.
     
  • Situation auf Lothar-Sturmflächen
    Der Sturm Lothar vom 26. Dezember 1999 hatte in den betroffenen Gebieten enorme Auswirkungen auf den Wildlebensraum. Das Projekt "Untersuchungen über die Entwicklung der Verjüngung und das Verhalten von Schalenwild in Lothar-Sturmgebieten" bestätigte die Erfahrung, dass die verbesserten Lebensbedingungen besonders beim Reh zu einer erhöhten Reproduktions-
    rate und einer Zunahme des Wildbestandes führen. Zusätzlich lockten die günstigen Bedingungen Tiere aus der Umgebung an. Dies führte das insbesondere bei kleineren Freiflächen zu starken Wildkonzentrationen, was auch die gemessenen Verbissprozente zeigen.
    Das Verhältnis von Nahrungsaufnahme der Tiere zum vorhandenen Nahrungsangebot unterschied sich nur unwesentlich von dem in den umliegenden Wäldern. Da sich aber die Wuchsbedingungen auf den offenen Flächen grundlegend verändert hatten, war der Verbiss für die Entwicklung einer ersten Baumgeneration aus vorwiegend lichtbedürftigen Laubbaumarten kein Hindernis. Vielerorts musste einzig die Eiche gegen den Verbiss geschützt werden (Abb. 3). In einigen Gebieten ergeben sich aber inzwischen Probleme bei der langsam wachsenden Tanne, die stark unter dem Verbiss leidet, während das Laubholz bereits der Verbisshöhe entwachsen ist.

Literatur

  • Eiberle, K. (1989): Über den Einfluss des Wildverbisses auf die Mortalität von jungen Waldbäumen in der oberen Montanstufe. Schweiz. Z. Forstwes. 140,12: 1031-1042.
  • Eiberle K.; Nigg, H. (1987): Grundlagen zur Beurteilung des Wildverbisses im Gebirgswald. Schweiz. Z. Forstwes. 138, 9: 747–785.
  • Aste, C. (1995): Hebschuss gefallen. Der Anblick 68:19-20.
  • Rüegg, D., Nigg, H. (2003): Mehrstufige Verjüngungskontrollen und Grenzwerte für die Verbissintensität. Schweiz. Z. Forstwes. 154 (2003) 8: 314–321.

 

(TR)