Der seltene Weissrückenspecht (Dendrocopos leucotos) (Abb. 1) gilt als "Urwaldart" und lebt in forstlich wenig beeinflussten, laubholzreichen Altholzbeständen mit viel Totholz, aus dem er ganzjährig Kleintiere, hauptsächlich Insektenlarven, herausschlägt. Im mittleren und westlichen Europa liegen seine Verbreitungsschwerpunkte in wenig oder gar nicht genutzten Waldgebieten, wie dem niederösterreichischen Dürrensteingebiet, dem polnischen Urwald Białowieza und der norwegischen Westküste. Aus Schweden, Finnland und dem ungeschützten Teil des Waldkomplexes Białowieza sind dramatische Bestandesrückgänge infolge intensiver Holznutzungen dokumentiert.

Erst seit 1996 in der Schweiz nachgewiesen

In der Schweiz wurde der Weissrückenspecht wie in ganz Mitteleuropa aufgrund intensiver Holznutzung vermutlich schon vor Jahrhunderten stark zurückgedrängt. Mit dem vermehrten Belassen von Totholz im Wald und dem Einrichten von Naturwaldreservaten erhält der Weissrückenspecht wieder eine Chance.

1996 kam es bei Molinis in Graubünden zum ersten wissenschaftlich anerkannten Nachweis für die Schweiz. Bis Ende 2007 wurde die Art im Norden Graubündens an zwölf Orten festgestellt, davon an sieben Stellen brütend. Ganz offensichtlich sind diese Vorkommen einer vermehrten Entstehung und Schonung von Totholz in den letzten Jahrzehnten zu verdanken.

Untersuchungen zur Totholzabhängigkeit des Spechts

Das Vorkommen des Weissrückenspechts in steilen, kaum bewirtschafteten, buchenreichen Wäldern Graubündens war der Anlass, dessen Abhängigkeit von Totholz genauer zu untersuchen und das Angebot sowie die Entstehung von Totholz in typischen Habitaten zu dokumentieren. Es stellten sich folgende Fragen:

  • Wie stark sind die in Graubünden lebenden Weissrückenspechte bei ihrer Nahrungssuche auf Totholz angewiesen?
  • Wie ist der Baumbestand eines idealen Weissrückenspecht-Biotops charakterisiert?
  • Wie entsteht in den vom Weissrückenspecht benutzten Lebensräumen Totholz und
  • welcher Entwicklung unterliegt dieses?

Zur Charakterisierung der vom Weissrückenspecht besiedelten Habitate wurden drei Methoden verwendet:

  1. Aufnahmen zur Lebensraumnutzung
    Weissrückenspechte auf Nahrungssuche verfolgte man so lange wie möglich. Zwischen Juni 2000 und November 2008 wurden in 394 Registrierungen aus insgesamt 46 Beobachtungssequenzen neben Art, Dimension und Zustand der aufgesuchten Objekte auch Angaben zu Entwicklungsstufe und Baumartenzusammensetzung des Waldbestands notiert. 49% der Aufnahmen stammen aus der Zeit der Vegetationsruhe (November bis Februar), 44% aus der Übergangszeit (April/Mai und September/Oktober) und 7% aus der Vegetationsperiode.

  2. Erhebung des Baumbestands in zwei typischen Habitaten
    Im Herbst 2008 wurden auf zwei Flächen in mässig frischen Kalk-Buchenwäldern, die dem "idealen" Habitat des Weissrückenspechts in Nordbünden zu entsprechen scheinen, Vollerhebungen des Baumbestandes - inklusive Totholz - durchgeführt. Beide Flächen waren in den Jahren zuvor regelmässig von Weissrückenspechten zur Nahrungssuche aufgesucht worden. Von allen lebenden und abgestorbenen Bäumen mit einem Brusthöhendurchmesser (BHD) > 12 cm wurde der BHD gemessen. Dürrständer, liegendes Totholz, Baumstrünke ab 50 cm Höhe und Wurzelstrünke wurden geschätzt. Von allen Objekten wurde anschliessend das Volumen berechnet. Die Totholzzuordnung zu einem der fünf Abbaustadien Frisch, Tot-, Morsch-, Moder- oder Mulmholz erfolgte anhand der Holzfestigkeit im Bereich der BHD-Messstelle. Todesursachen wurden anhand der sichtbaren Spuren abgeschätzt.

  3. Feststellung der Waldentwicklung anhand von Fotos
    Fotoaufnahmen dienten zur Charakterisierung der Totholzentstehung in den Weissrückenspecht-Lebensräumen. Insbesondere im Herbst 2008 wurden 31 Standorte in fünf Weissrückenspecht-Gebieten besucht, von denen bereits Lebensraumfotos zwischen Mai 1997 und Juli 2005 existieren. Die noch identifizierbaren Bäume wurden mit dem Foto verglichen, auf inzwischen eingetretene Änderungen untersucht und ihr BHD gemessen

Lebensraumnutzung

85% der Nahrung suchenden Weissrückenspechte wurden in mittleren oder starken Baumhölzern beobachtet. Der Laubholzanteil der genutzten Waldbestände betrug im Mittel 82%. Insgesamt fand die Nahrungssuche zu 97.3% auf totem Holz statt, das die Spechte auch dann bevorzugt besuchten, wenn sie sich an lebenden Bäumen aufhielten (ca. ein Fünftel der Beobachtungen). In etwa einem Drittel der Fälle war das bearbeitete tote Holz noch von Rinde bedeckt. In ca. 35% der Fälle erfolgte die Nahrungssuche in Bodennähe (< 50 cm über Boden) (Abb. 3 und 4). Die Dicke der bearbeiteten Holzteile betrug im Mittel 24 cm. Es wurden alle Zersetzungsgrade genutzt, vermodertes Holz am wenigsten häufig.

Die wichtigste Baumart bei der Nahrungssuche war die Buche, die zugleich auch die dominierende Baumart in den aufgesuchten Lebensräumen war. Insgesamt nutzen die Spechte die Baumarten ungefähr gemäss ihrer Häufigkeit, wobei sie auch die Fichte nicht verschmähten. Totes Holz spielte auch ausserhalb des Nahrungserwerbs eine wichtige Rolle. Ohne Rindenbedeckung dient es zum Trommeln. 24 Brut- und 4 Schlafhöhlen befanden sich in vollständig abgestorbenem Holz, 18 in Dürrständern, 10 in lebenden Bäumen.

Baumbestand in zwei typischen Weissrückenspecht-Habitaten

Die beiden Untersuchungsflächen, die dem Ideal des Weissrückenspecht-Habitats in Nordbünden entsprechen dürften, wiesen neben einem lebenden Baumbestand von über 400 m3/ha mehr als 100 m3/ha Totholz auf. Der Anteil von stehendem Totholz am gesamten Totholz betrug in den Flächen 33% bzw. 63%. Zur Verjüngungseinleitung waren zehn Jahre vor der Erhebung in beiden Flächen zwischen 10 und 15% des Vorrates entnommen worden.

Liegend tote Bäume besassen weiter fortgeschrittene Abbaustadien als Dürrständer. Keines der Tothölzer erreichte das Abbaustadium Mulmholz. Der wichtigste Grund für das Absterben der Bäume war neben menschlicher Nutzung äussere mechanische Einwirkung (Abb. 5). Mittels Bohrkernen wurde für beide Flächen ein durchschnittliches Baumalter von 160 Jahren ermittelt. Die meisten der beprobten absterbenden oder abgestorbenen Bäume zeigten in den letzten 5 bis 15 Jahren deutliche Rückgänge der Jahrringbreite.

Folgerungen für die Qualität des Lebensraums

  • Totholz

    Die für Graubünden belegte starke Abhängigkeit des Weissrückenspechts von Totholz wird von anderen europäischen Untersuchungen in etwas abgeschwächter Form bestätigt. Der Unterschied kommt möglicherweise dadurch zustande, dass in Graubünden nur 7% der Daten aus der Vegetationsperiode stammen. Offenbar werden während dieser Zeit auch dort vermehrt Kleintiere ausserhalb des Holzes erbeutet.

  • Baumartenzusammensetzung

    Ein weiterer Grund könnte in der Baumartenzusammensetzung liegen: die Buche wurde in Graubünden zu 82% vom Specht genutzt. In Niederösterreich hingegen hielten sich Nahrung suchende Weissrückenspechte bei ähnlichen Baumartenzusammensetzungen nur zur Hälfte an Buchen auf, und auch im Nationalpark Bayerischer Wald scheint diese Baumart als Nahrungsbaum nicht so zu dominieren. In Skandinavien und im Nationalpark Białowieza nutzt der Weissrückenspecht anstelle der dort fehlenden Buche eine Reihe anderer Baumarten, meistens Laubhölzer. Der Nahrungserwerb der Nordbündner Weissrückenspechte basiert fast ausschliesslich auf Buchentotholz. Vielleicht liegt in der Fokussierung auf diese eine Baumart auch der Grund für den relativ niedrigen Bruterfolg.

  • Totholzvorräte

    Die in den beiden Untersuchungsflächen ermittelten Totholzvorräte entsprechen in etwa demjenigen europäischer Naturwälder. Innerhalb ihrer Reviere, die bis weit über 100 ha gross sein können, nutzen Weissrückenspechte in Graubünden aber nicht nur Gebiete mit den höchsten Totholzvorräten, sondern sind gelegentlich auch in eher durchschnittlichen Waldtypen anzutreffen. Sogar in jüngeren Fichtenforsten auf Buchenstandorten suchten sie gezielt morsche Baumstrünke aus der letzten Durchforstung auf. Eindeutige Angaben, wie viel Totholz ein Specht braucht, lassen sich aufgrund der Studie deshalb nicht machen.

  • Abbaustadien

    Die für den Weissrückenspecht so wichtige Mortalität im Baumbestand hing in den untersuchten Lebensräumen wesentlich mit einem durch die Steilheit des Geländes bedingten asymmetrischen Kronenwuchs zusammen. Dieser führte zum Abbrechen von Kronenteilen oder gelegentlich zum Umkippen ganzer Bäume - zumeist Buchen. Totholz kommt im untersuchten Gebiet auf kleinem Raum in verschiedenen Abbaustadien nebeneinander vor. Einerseits nutzt der Weissrückenspecht offenbar diese Vielfalt, andererseits ist diese auch für die Entwicklung einer artenreichen Saproxylen-Fauna entscheidend.

  • Nahrungsangebot

    Viele Totholz bewohnende Insektenarten stellen zum einen spezifische Anforderungen an ihr Mikrohabitat, zum anderen weisen sie eine geringe Mobilität auf und werden daher zum Teil als hochgradig gefährdet eingestuft. Entscheidend für das Überleben dieser "Urwaldreliktarten" ist, dass immer genug Totholz vorhanden ist. Der wohl bekannteste Vertreter dieser Artenliste ist der Alpenbock, (Rosalia alpina, Abb. 6), der auch aus mehreren Weissrückenspecht-Gebieten Nordbündens bekannt ist.

Strategie zur Förderung der Waldbiodiversität

Naturwaldreservate sind eine geeignete Massnahme, um eine ausreichende Totholzmenge für den Weissrückenspecht über einen langen Zeitraum sicherzustellen. Neben Massnahmen zur Förderung der Biotopqualität in Auerhuhnlebensräumen und der Pflege von Kulturlandformen, wie Weidewälder und Kastanienselven, bildet das Einrichten von Naturwaldreservaten somit auch das Rückgrat, mit dem die Waldbiodiversität durch das Amt für Wald Graubünden gefördert wird. Der Kanton Graubünden strebt Naturwaldreservate im Umfang von 5% der Gesamtwaldfläche an, verteilt auf die häufigen und typischen Waldgesellschaften. Eine solch tief greifende Massnahme kann aber nicht nur mit den Lebensraumansprüchen einer einzelnen Art begründet werden. Tatsächlich profitiert eine Vielzahl weiterer Organismen ebenfalls davon. Für die konkrete Umsetzung ist es daher wichtig, fundierte Kenntnisse über diese Arten zu bekommen.

Die Beobachtung, dass sich Weissrückenspechte durch eine gelegentliche intensivere Waldbewirtschaftung nicht abschrecken lassen, zeigt, dass eine rücksichtsvolle Holznutzung mit einer für den Naturschutz interessanten Totholzhaltung kombinierbar ist. Bessere Kenntnisse über die Abhängigkeit der Pilzflora und Arthropodenfauna von der Intensität der Waldbewirtschaftung sind erforderlich, um die den Naturschutzbemühungen in dieser Richtung zu optimieren.