Unter den Naturgefahren, die in einem Gebirgsland wie der Schweiz häufig auftreten, zählen Steinschläge zu den unberechenbarsten. Während zum Beispiel bei Lawinen die auslösenden Faktoren recht gut bekannt sind – dazu gehört etwa die Neuschneemenge innerhalb eines Tages –, ist der Zeitpunkt des Abbrechens von Felsbrocken oft schwer vorherzusagen. Umso wichtiger ist es, wirksame Schutzmassnahmen zu treffen – seien dies nun Galerien, Schutzdämme, Steinschlagnetze oder die Pflege von Schutzwäldern. Die öffentlichen Ausgaben für den Schutz vor Steinschlag sind in letzter Zeit deutlich gestiegen. Einerseits deshalb, weil der Klimawandel zu mehr Steinschlägen führen könnte, sagt Arthur Sandri von der Abteilung Gefahrenprävention des Bundesamtes für Umwelt (BAFU); gesicherte Aussagen seien derzeit aber noch nicht möglich. Andererseits hat der Verkehr stark zugenommen, so dass sich der Fokus vom – bereits recht weit fortgeschrittenen – Siedlungsschutz zu den Verkehrswegen verschoben hat.

Schutzvorkehrungen werden hinterfragt

In Zusammenhang mit Steinschlag sorgen oft Strassen und Bahnlinien für Schlagzeilen. So prallte etwa im Januar 2007 eine Lokomotive der Rhätischen Bahn in der Rheinschlucht in einen herunter gestürzten Steinblock und entgleiste. 2003 durchschlugen Steinblöcke die Dächer von Galerien an der Axenstrasse und der Autobahn bei Gurtnellen. In Gurtnellen starben im Mai 2006 zwei Personen in ihrem Auto, als gewaltige Felsbrocken auf die Autobahn stürzten. Der entsprechende Abschnitt war nur mit Steinschlagnetzen ausgestattet, die vor so grossen Blöcken jedoch keinen Schutz bieten.

"Diese Unglücke haben dazu geführt, dass die bestehenden Schutzvorkehrungen hinterfragt werden", sagt Sandri. So hat das Bundesamt für Strassen mit Unterstützung des BAFU im Juni ein mehrjähriges Projekt gestartet, welches eine umfassende Gefahrenanalyse auf dem gesamten rund 1900 Kilometer langen Nationalstrassennetz zum Ziel hat.

Aber auch bei der Erforschung und Optimierung der Schutzmassnahmen ist einiges im Gang: So wird etwa bei Galerien untersucht, wie sich mit einer speziellen Deckschicht auf der Betondecke oder mit einer Federung zwischen den Pfeilern und der Betondecke die auf das Bauwerk einwirkenden Kräfte reduzieren lassen.

Zudem versucht man, mehr über die Schutzwirkung von Bäumen herauszufinden, denn diesen kommt eine Schlüsselrolle zu – auch bei der Bemessung von Schutzbauten unterhalb von Wäldern. In der Regel hat man sich dabei bisher auf bereits geschehene Ereignisse sowie auf sogenannte stumme Zeugen abgestützt. Zu letzteren zählen beispielsweise Baumjahrringe, die Aufschluss über vergangene Steinschläge und deren Häufigkeit geben. Auch das Ereignis von Gurtnellen 2006 hat man im Nachhinein analysiert.

Damals gelangten mehrere bis zu 50 Kubikmeter grosse Blöcke auf die Autobahn; einige überquerten diese sogar. Etwa 20 Blöcke blieben jedoch im untersten Streifen des Waldes oberhalb der Autobahn hinter Bäumen liegen. Ohne Wald hätten die meisten davon vermutlich ebenfalls die Strasse erreicht.

Spurensuche im Gelände

Anhand der Spuren im Gelände, insbesondere an Bäumen, konnten Fachleute des Kantons Uri und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) Birmensdorf die einzelnen Sprünge rekonstruieren und so für zehn Blöcke die Energien berechnen. Im Bereich der Autobahn betrugen diese in einzelne Fällen bis zu 30 000 Kilojoule. Die Energie der meisten Felsbrocken entsprach etwa derjenigen eines 40-Tonnen-Lastwagens bei voller Fahrt. Die Ergebnisse, insbesondere die Sprunghöhen von bis zu 4 Metern und die Sprungweiten von maximal 25 Metern, flossen unter anderem in die Planung der Schutzdämme und Steinschlagnetze ein, die in der Zwischenzeit gebaut worden sind.

Bäume wirken als "System"

Doch der Blick in die Vergangenheit reicht heute nicht mehr aus; eine moderne Risikobeurteilung muss auch Prognosen umfassen. Obwohl seit einigen Jahren einfache Modelle zur Beurteilung der Schutzwirkung des Waldes zur Verfügung stehen, fehlten realistische Experimente und Daten bisher weitgehend. So war lange unklar, wie viel kinetische Energie ein stehender Baum aufnehmen kann, wenn er von einem Stein getroffen wird. Im Rahmen eines EU-Projektes wurden in den vergangenen Jahren die Wechselwirkungen zwischen Steinschlag und Wald deshalb intensiv untersucht.

Wissenschafter des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung in Davos erforschten beispielsweise die mechanischen Eigenschaften der Fichte. Besonders aufschlussreich waren jene Versuche, in denen einzelne Bäume durch einen Prüfkörper gezielt gerammt wurden. Die zwischen 200 und 1000 Kilogramm schweren Prüfkörper wurden dabei auf Seilen in der Luft mit einer Geschwindigkeit von bis zu 80 Kilometern pro Stunde zum Baum hin bewegt.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse daraus war, dass der lebende Baum als "System" zu betrachten ist. Die auf ihn einwirkende Kraft wird nicht nur auf den Stamm, sondern auch auf Krone und Wurzeln übertragen: Das Boden-Wurzelsystem absorbiert rund ein Drittel der Energie, der Rest wird durch die Biegung des Stammes und die Verformung des Holzes beim Aufprall aufgefangen. Das Ergebnis der Untersuchungen war eine Gleichung, mit der sich das Energie-Aufnahmevermögen eines Baumes in Abhängigkeit seiner Dicke und Höhe sowie der Höhe und des Winkels bestimmen lässt, in dem der Stein auf den Baum prallt.

Die Bremswirkung von Bäumen

Einen andern Weg wählten Forscher des französischen Forschungszentrums für Naturgefahren und Gebirgsökosysteme (Cemagref) in Grenoble. Sie liessen Steinblöcke von 0,1 bis 1,5 Kubikmetern Grösse zwei Test-Hänge hinunterfallen – einer war bewaldet und vorwiegend mit Nadelbäumen bestockt, der andere unbewaldet – und protokollierten die Sturzbahnen. Dazu verwendeten sie einerseits Videoaufzeichnungen, andererseits markierten sie die Blöcke mit Farbe und analysierten dann die Farbspuren, die diese bei ihrem Sturz auf Boden und Bäumen hinterlassen hatten. In den 100 Versuchen im bewaldeten Hang trafen die Blöcke insgesamt knapp 300 Mal einen Baum. "Besonders aufschlussreich sind die 9 Volltreffer gewesen, die zum Bruch eines Baumes geführt haben", sagt Luuk Dorren, der an den Experimenten am Cemagref massgeblich beteiligt war.

Anhand der Geschwindigkeit, der Flugbahn und der Masse konnten die Energien des Steinblockes vor und nach dem Aufprall bestimmt werden, und daraus liess sich dann ableiten, wie viel Energie ein Baum mit einem bestimmten Durchmesser maximal aufnehmen kann. Bei einem Nadelbaum mit einem Stammdurchmesser von 30 Zentimetern sind dies rund 100 Kilojoule, sofern der Stein den Stamm in den untersten zwei Metern trifft. Zusammen mit seinen Kollegen ist es Dorren gelungen, nicht nur die Werte für unterschiedlich dicke Nadelbäume zu bestimmen, sondern diese auch für einige wichtige Laubbäume herzuleiten.

Laubbäume sind demnach in der Lage, rund doppelt so viel Energie aufzunehmen wie Nadelbäume. Daraufhin entwickelten die Wissenschafter ein Steinschlagmodell, das die bremsende Wirkung der Bäume berücksichtigt. Mit diesem konnten die Forscher in der Zwischenzeit erfolgreich mehrere Steinschläge modellieren, die sich in den Alpen ereignet hatten.

Steine sind nicht einfach Kugeln

Der Weg zu Steinschlagmodellen, die in der Praxis von Ingenieurbüros als Prognosewerkzeug angewendet werden können, ist allerdings noch weit. Schwierigkeiten bereitet den Forschern insbesondere die Tatsache, dass sich Felsblöcke nach einer anfänglichen Rutsch- und Rollphase in Sprüngen nach unten bewegen. Lawinen fliessen, und können deshalb mit Modellen relativ einfach beschrieben werden, wie Axel Volkwein von der WSL sagt. Beim Steinschlag hingegen ist eine Simulation viel schwieriger, weil der einzelne Verlauf jeweils stark durch Zufälligkeiten bestimmt werde.

Aus diesem Grund sind viele Simulationen nötig, um die wahrscheinlichsten Flugbahnen herzuleiten. Als Steinform hat man bisher vorwiegend eine Kugel angenommen, sagt Volkwein. In Realität sehen die Blöcke allerdings anders aus. Doch sind vor allem die kugelförmigen Steine gefährlich, so Volkwein. Je flacher und eckiger ein Stein, desto eher bleibt er nach einigen Sprüngen auch wieder liegen. Runde scheibenförmige Steine hingegen sind ebenfalls sehr gefährlich, wenn sie rotierten und wie ein Rad den Hang hinunter rollten.

Schutzwaldpflege lohnt sich auch zukünftig

Laut den Fachleuten ist derzeit noch unklar, ob aufgrund der neuen Erkenntnisse aus der Steinschlag-Forschung die heute geltenden Richtwerte für Steinschlag-Schutzwälder revidiert werden müssen. Diese legen beispielsweise fest, wie viele Bäume mit welchem Durchmesser pro Hektare Schutzwald anzustreben sind. Unbestritten ist hingegen, dass Investitionen in die Pflege der Schutzwälder sich lohnen. "Mit rund 12 500 Franken pro Hektare ist die Schutzwaldpflege zwar recht teuer", erklärt Sandri. "Wie Erfahrungen zeigten, ist diese aber immer noch 10 bis 30 Mal kostengünstiger als der Bau und Unterhalt von technischen Schutzmassnahmen wie etwa Galerien und Steinschlagnetzen. Bei der heute geforderten Sicherheit wird man aber auch zukünftig mit einer optimalen Schutzwaldpflege auf punktuelle technische Schutzbauten nicht verzichten können."