Aus der Schweiz sind nahezu 1800 Flechtenarten bekannt, davon sind 621 an den Lebensraum Wald gebunden. Von diesen eigentlichen Waldarten gehören wiederum134 zu den prioritären Arten, die spezielle Massnahmen zur langfristigen Arterhaltung benötigen. Aus verschiedenen internationalen Untersuchungen geht hervor, dass der Artenreichtum bei baumbewohnenden Flechten durch die vorherrschende Baumart, die Baumartenvielfalt, die klimatischen Bedingungen, die Bestandesstruktur und den Stammdurchmesser beeinflusst wird.

Flechten auf dicken oder alten Bäumen

Flechten können zwar auf allen Altersklassen von Bäumen vorkommen, fast drei Viertel der Waldarten sind jedoch an Kleinstandorte und Strukturen gebunden, die als phänologische Altersmerkmale von Bäumen gelten und auf dicke oder alte Bäume beschränkt sind. Solche Arten werden im Folgenden als Altbaum-Flechten bezeichnet

Zwischen den Altbaum-Flechten und den übrigen Flechtenarten konnten Wissenschaftler signifikante Unterschiede bei den besiedelten Baumdimensionen feststellen. So war sowohl der minimale als auch der mittlere Brusthöhendurchmesser (BHD) deutlich grösser bei den Altbaum-Flechten als bei den übrigen untersuchten Flechtenarten. Die maximalen BHD der von Altbaum-Flechten besiedelten Bäume sind dann interessanterweise nicht mehr grösser, was darauf hinweist, dass die meisten Flechtenarten auch auf sehr dicken Bäumen wachsen können. Gefährdete Waldflechten (Kategorien CR, EN und VU der roten Listen) benötigen zudem signifikant grössere Stammdurchmesser, um sich auf Bäumen zu etablieren als ungefährdete Arten (LC und NT).

Was sind Flechten?

Als Flechte bezeichnet man eine Lebensgemeinschaft zwischen einem Pilz und einem (oder mehreren) Photosynthese betreibenden Partner, wobei die Lebensgemeinschaft für beide Partner von Nutzen ist. Die Pilzpartner sind Schlauchpilze, die Photosynthese betreibenden Partner gehören zu den Grünalgen oder den Cyanobakterien.

Die Eigenschaften der Flechten setzen sich deutlich von jenen der Organismen ab, aus denen sie sich zusammensetzen. Beispielsweise besiedeln Flechten auch sonnenexponierte, trocken-heisse Felsen, wo Pilze oder Algen kaum vorkommen können.
 

Quelle: Wikipedia, verändert

Die Bindung zahlreicher Flechtenarten an dicke oder alte Bäume erklärt sich dadurch, dass dicke Stämme mit rissiger Borke Kleinstandorte und Strukturen aufweisen, die sich erst sukzessive mit zunehmendem Alter der Bäume entwickeln. Im typischen Fall wird deshalb der Artenreichtum baumbewohnender Flechten am Einzelbaum mit dem Baumalter zunehmen. Die höhere Artenzahl auf älteren Bäumen ist jedoch weniger das Resultat der durch Dickenwachstum des Stammes zusätzlich entstandenen Fläche oder der früh begonnenen Akkumulation von Arten am Stamm, sondern das Ergebnis einer grösseren Strukturvielfalt.

Kleinstandorte, die erst mit zunehmendem Baumalter entstehen, können wegen ihrer Bedeutung als Lebensraum für Flechten als Schlüsselstrukturen bezeichnet werden. Solche Schlüsselstrukturen charakterisieren meist sehr spezifische Standortansprüche von Flechten. Zum Beispiel weisen schräg stehende Stämme eine durch überdurchschnittlich viel Stammabflusswasser begünstigte, länger feucht bleibende Stammseite auf, welche den wechselfeuchten Flechten eine längere physiologische Aktivität ermöglicht. Eine ähnliche Wirkung hat vermorschende Borke alter Bäume, die eine erhöhte Wasserspeicherkapazität aufweist. Auf gegenteilige Standorte haben sich wiederum andere Flechten spezialisiert, die nur an regengeschützten Kleinstandorten wie überhängenden Stammseiten oder Borkenrissen wachsen. Beispiele von Schlüsselstrukturen, die eine besondere Bedeutung als Lebensraum für Flechten haben, sind in Abb. 2 aufgelistet.

Flechten in alten Wäldern

Als symbiotische Organismen haben Flechten komplexe ausbreitungsbiologische Strategien entwickelt. Flechtenarten, welche sich mittels einzelliger Sporen ausbreiten, gehören zu den häufigsten Besiedlern isolierter Bäume in offenen Landschaften. Der Wind treibt die Sporen über weite Strecken.

Nebst der geschlechtlichen Vermehrung des Pilzpartners mittels Sporen können Flechten auch symbiotische Ausbreitungseinheiten (Soredien und Isidien) entwickeln, die sowohl den Pilzpartner als auch den Algenpartner beinhalten. Dies hat den Vorteil, dass die Soredien und Isidien auf geeigneter Unterlage wieder zu einer Flechte heranwachsen, weil beide Symbiosepartner vorhanden sind. Allerdings sind die Soredien und Isidien deutlich grösser als Sporen und verfügen dadurch über ein stark eingeschränktes Ausbreitungsvermögen.

Verschiedene gefährdete Waldflechtenarten sind wegen ihrer eingeschränkten Ausbreitungsradien darauf angewiesen, dass ihr Lebensraum über lange Zeit erhalten bleibt (zeitliche Vernetzung, ökologische Kontinuität) und dass weitere geeignete Lebensräume in kurzer Distanz vorhanden sind (räumliche Vernetzung, Lebensraumverbund). Flechtenarten, die über eingeschränkte Ausbreitungsradien verfügen und an alte Bäume gebunden sind, werden als Altwald-Flechten bezeichnet. Weil sie hohe Ansprüche an eine kleinräumige Vernetzung ihrer Lebensräume stellen, hat eine Fragmentierung ihrer Populationen in der Regel Auswirkungen über mehrere Jahrhunderte zur Folge.

Schlussfolgerung

Eine konsequente Förderung von Altbaum- und Altwald-Flechten ist eine dringende Aufgabe für den Artenschutz im Wald. Nur so können die 134 prioritären Waldarten erhalten werden. Dabei erhält die Erhaltung der noch vorhandenen Vorkommen eine zentrale Bedeutung. Wegen der bei diesen Arten oft nur kleinräumig möglichen Ausbreitung ist zusätzlich zu der Erhaltung gegenwärtiger Vorkommen auf eine kleinräumige Vernetzung der künftigen Lebensräume hinzuarbeiten.

Gerade weil die Fläche an ausgeschiedenen Schutzgebieten wie Wald- und Sonderwaldreservaten von Experten als deutlich zu niedrig erachtet wird, kommt der gezielten Förderung von Altbaum- und Altwald-Flechten auch im bewirtschafteten Wald eine grosse Bedeutung zu. Allerdings werden sich diese Instrumente für den Artenschutz seltener und gefährdeter Baumflechten im Wirtschaftswald nur dann bewähren, wenn bei der Auswahl von Biotopbäumen und Altholzinseln die Vorkommen der prioritären Waldflechten gezielt berücksichtigt werden.

    Im Allgemeinen können prioritäre Waldflechten mit einem geringen Flächenbedarf gefördert werden. An einem Biotopbaum lassen sich oft mehrere Arten erhalten, und verschiedene Arten kommen auf verschiedenen Baumarten vor, welche über ähnliche Borkeneigenschaften verfügen. Eine Dichte von zehn Biotopbäumen pro Hektare erachten wir als ausreichend, damit Strukturelemente einer Baumart in genügender Dichte erhalten bleiben. In Mischwäldern, in welchen Biotopbäume verschiedener Baumarten und mit unterschiedlichen Altbaum-Flechten bezeichnet werden, muss die Dichte von Biotopbäumen entsprechend höher sein.

    Damit eine ökologische Kontinuität der Schlüsselstrukturen gewährleistet bleibt, müssen künftige Biotopbäume in enger Nachbarschaft zu existierenden Vorkommen gefördert werden. Andernfalls vermögen Instrumente wie Biotopbäume und Altholzinseln zwar das Erlöschen von noch vorhandenen Vorkommen zu verzögern, unterstützen eine Vermehrung gefährdeter Flechtenarten auf eine nachfolgende Generation von Trägerbäumen aber nur ungenügend.

    (TR)