Das österreichische Naturwaldreservate-Programm wurde 1995 ins Leben gerufen. Anlass waren die Resolutionen der Ministerkonferenz zum Schutz des Waldes in Europa (MCPFE, heute Forest Europe) 1993 in Helsinki. Dabei ver­pflichteten sich die Forst- und Umweltminister zum Aufbau eines zusammenhängenden, für alle Waldtypen repräsentativen Netzes von Waldschutzgebieten.

Im Gegensatz zu politischen Absichts­er­klärung der MCPFE beinhaltet das Protokoll Bergwald der Alpenkonvention eine gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung von Naturwaldreservaten, allerdings sehr unbestimmt "in ausrei­chender Größe und Anzahl", aber mit einem klaren Bekenntnis zu vertraglichen Regelungen.

Grundlagen des Programmes sind noch immer zeitgemäß

Im Jahr 1995 wurde ein Rahmenkonzept entwickelt, das in die Forstlichen Grundsätze des Bundes für die Einrichtung eines österreichweiten Netzes von Naturwaldreservaten (NWR) mündete. Diese sind nach wie vor modern und aktuell. Sie beinhalten ganz bewusst keine strengen Flächenforderungen in Hektaren oder Prozent, sondern sind auf die Repräsentativität eines NWR-Netzes ausgerichtet (Definition von Naturwaldreservaten).

Alle in Österreich vorkommenden Waldgesellschaften sollen, differenziert nach Wuchsgebieten, darin vertreten sein. Mit der Umsetzung und dem Aufbau des Netzes wurde das Bundesforschungszentrum für Wald (BFW) betraut, die rechtliche und finanzielle Abwicklung erfolgt durch das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft (BMLFUW).

Das Rahmenkonzept baut auf drei gleichrangigen Zielen auf: Beitrag zur Erhaltung der biologischen Vielfalt, Monitoring und Forschung sowie Nutzung als Bildungsobjekte. Der Vorgang der Auswahl, Einrichtung und der weiteren ­Betreuung wurde festgelegt.

Auf dem Rahmenkonzept beruhen die Vertragsgrundsätze:

  • Freiwilligkeit: Jeder Vertragsabschluss erfolgt nur auf ausdrücklichen Wunsch des Waldeigentümers oder der -eigentümerin. Er lädt das BFW zur Prüfung ein, ob seine Waldfläche als Naturwaldreservat geeignet ist und ob daran Bedarf besteht.
  • Vertragsnaturschutz: Der 1995 zwischen den Vertragspartnern und -partnerinnen ausverhandelte Vertrag wurde bisher noch in keinem Fall geändert. Der Waldeigentümer und die -eigentümerin verzichten auf die forstliche Nutzung seiner Waldfläche und erhält dafür ein jährliches Entgelt.
  • Langfristigkeit: Die Verträge wurden auf 20 Jahre angelegt. Der Bund hat eine Option auf Weiterverlängerung um weitere 20 Jahre.
  • Ausstiegmöglichkeiten: Unter bestimmten Bedingungen kann der Waldeigentümer und die -eigentümerin auch vorzeitig aus dem Vertrag aussteigen. Bisher wurde diese Möglichkeit erst von zwei Vertragspartnern wahrgenommen.
  • Jährliches Entgelt: Ein jährliches Entgelt wird nach vereinbarten Regeln entrichtet. Die entgeltliche Überlassung ist ein Teil der nachhaltigen Waldbewirtschaftung und generiert ein regelmäßiges Einkommen.

Auch die Flächenauswahl und die Handhabung von Ausschließungs- oder Aufhebungsgründen beruhen auf dem Grundsatz-Konzept und erfolgen ausschließlich auf Ersuchen oder Antrag des Eigentümers oder der Eigentümerin. In der Regel wirken die ­regionalen Behördenvertreterinnen oder Kammerberater als Vermittler.

Die Bedarfsprüfung erfolgt nach dem einfachen Grundsatz, dass jede in einem Wuchsgebiet vorkommende Waldgesellschaft darin zumindest durch ein NWR vertreten sein soll. Das BFW erstellt ein Gutachten über die ausgewählte Fläche.

Dieses begründet einerseits die Eignung des NWR gegenüber dem Steuerzahler und der Steuerzahlerin, andererseits wird durch das Gutachten das jährliche Entgelt für den Eigentümer oder die Eigentümerin (keine Entschädigung, sondern Entgelt!) ermittelt.

Der aktuelle Stand

Nach umfangreichen Vorarbeiten wurden am 28. August 1996 in Neckenmarkt die ersten beiden Verträge unterzeichnet. Der heutige Stand (Oktober 2021) beträgt 192 NWR bei 8355 ha Gesamtfläche (Broschüre über Naturwaldreservate).

Seit Beginn des Programmes musste in zwei Fällen der Vertrag wegen Diskrepanzen in der Auffassung, was vertretbare Wildschäden sind, gekündigt werden und in einem Fall wegen einer Borkenkäfer­kalamität, die drohte, zu Nachbarn überzuschwappen. Man kann den Grad der Fertigstellung eines so komplexen Programmes nicht genau berechnen. Nach unserer pragmatischen Einschätzung ist das Netzwerk zu zumindest zwei Drittel eingerichtet.

Betreuung und Kommunikation

Mit 8403 Hektar Gesamtfläche hat das NWR-Netz die Größe eines Nationalparks erreicht, allerdings mit derzeit 195 Einzelflächen über ganz Österreich verteilt. Man kann sich vorstellen, dass dadurch ein viel höheres Ausmaß an Grenzlinien, durch die Vielzahl an Eigentümerinnen und Ansprechpartnern und durch die Zerstreutheit der Einzelflächen der Aufwand für die notwendige regel­mäßige Betreuung der Flächen ungleich höher ist.

Ein solches, auf zivilrechtlichen Verträgen beruhendes Programm braucht Betreuung. Eine Vielzahl an Problemfällen verlangen nach einer gemeinsamen Lösung: beabsichtigte und unbeabsichtigte Vertragsverletzungen, notwendige Eingriffe im öffentlichen Interesse, Konflikt­situationen mit Tourismusprojekten etc. Leider weicht auch die Verbissbelastung durch Schalenwild in den Naturwald­reservaten von den aus dem Wildeinflussmonitoring (WEM) und der österreichischen Waldinventur (ÖWI) bekannten österreichweiten Ergebnissen nicht ab.

Extremereignisse gehören zur Natur, die Natur kennt keine Störung im menschlichen Sinn. Wir haben schon ­alles erlebt: Windwurf, Borkenkäfer­kalamitäten, extreme Trockenheit, Lawinen aller Art, Felsstürze, Waldbrand. In einigen Fällen konnten wir solche Ereignisse nutzen: Zum Beispiel beobachten wir seit einem Brand im NWR Potokkessel im Jahre 1998 die Wiederbesiedlung der Brandfläche. In einem anderen Fall bietet uns ein Windwurf im NWR Krimpenbachkessel die Möglichkeit, die Sukzession auf der Windwurffläche zu verfolgen. Solche Forschung kostet Zeit und vor allem einen langen Atem. Und es dauert meist sehr lange, bis Ergebnisse für die Praxis vorliegen.

Monitoring und Forschung

Bereits bei der Einrichtung der NWR vor fast 20 Jahren wurden neben den für die monetäre Bewertung notwendigen Erhebungen permanente Probeflächen eingerichtet. Diese erlauben einerseits jederzeit eine Neubewertung, andererseits aber sind diese Beobachtungsflächen heute ganz wichtige Referenzflächen der Waldentwicklung. Zum Beispiel können auf diese Weise nicht nur die aktuellen Totholzvorräte gemessen werden, sondern auch Aussagen über die Mortalitätsraten und den Zuwachs getroffen werden.

Alle bisherigen Wiederholungsaufnahmen zeigen, dass sich die NWR noch in einer Aufbauphase befinden. In allen Fällen ist der Zuwachs an Holzmasse bedeutend höher als die Masse an absterbendem Holz im selben Zeitraum. Aber nur langfristige Zeitreihen können solche Trends wirklich quantitativ erfassen.

Beispiele für Ergebnisse

In einer Kooperation mit dem Waldbauinstitut der Universität für Bodenkultur in Wien (Prof. Dr. Harald Vacik) wurde das Projekt "Empfehlungen für die Naturverjüngung von Gebirgswäldern ELENA" entwickelt. Untersucht wurden die Rahmenbedingungen erfolgreicher Naturverjüngung hinsichtlich Standort, Bestandesstruktur, Konkurrenzvegetation, Moderholz, Lichtangebot und Naturnähe. Moderholz spielt eine wichtige Rolle, den entscheidenden Standortsfaktor gibt es aber nicht. Die Zusammenarbeit mit dem Waldbauinstitut der BOKU wird durch eine Reihe von Diplom- und Bachelorarbeiten in NWR vertieft.

Im geförderten Projekt "Biodiversitätsmonitoring in Naturwaldreservaten" (BioMonNWR) haben wir erstmals die Möglichkeit, systematisch Wieder­holungsaufnahmen durchzuführen. Dazu wurde ein standardisiertes Aufnahmeverfahren entwickelt, mit dem langfristig die Bestandesentwicklung, die Verjüngung und der Wildverbiss, das Totholz und die Schutzwald­eigenschaften und zwar über alle NWR mit der gleichen Methode dokumentiert werden.

Wir wollen in Zukunft die erprobte Methodik über die Pilotgebiete hinaus anwenden und erwarten uns dabei wichtige Anhaltspunkte zum Beispiel über das Totholzangebot und die Mortalitätsraten der einzelnen Waldgesellschaften. NWR können als Referenzflächen für den integrativen Naturschutz dienen: Welche Schwellenwerte sind ­erforderlich (wie viel Totholz ist notwendig) und welche Sättigungswerte (wie viel ist genug)? Dabei sind dann nicht mehr einzelne NWR Untersuchungs­objekte, sondern zum Beispiel alle ­Buchenwälder, die durch NWR repräsentiert werden.

Es geht aber auch darum, Ergebnisse aus der Naturwald-Forschung dem Fachpublikum und breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Als ­Pilotprojekt wird gerade ein Naturerlebnispfad konzipiert, wobei das Einverständnis des Eigentümers oder der Eigentümerin und die Möglichkeit der gezielten Besucherlenkung entscheidend sind.

20 Jahre Erfahrungen und Konsequenzen

Eine regelmäßige Kontrolle und Revision der NWR sind erforderlich. Wir verstehen dabei Kontrolle als Kommunikation mit den Eigentümern und Eigentümer­innen. Grenzen und Beobachtungseinrichtungen müssen instand gehalten werden. Es ist leicht, ein NWR zu etablieren, aber schwierig, über Jahrzehnte zu erhalten.

Die Kooperation mit Eigentümern und mit Behörden ist unbedingt notwendig. Wir statten nicht nur Routinebe­suche ab, sondern wir kommen rasch, wenn wir gerufen werden. Insbesondere Insektengradationen erfordern rasches, gemeinsames Handeln (beispielsweise rasche und fachkundige Entscheidung, ob eine Bekämpfung erforderlich ist). Wir beziehen dabei die Waldeigentümer und -eigentümerinnen immer ein, bei Kontrolle und Revision, aber auch bei allen anderen Aktivitäten wie Exkursionen und Führungen, Forschung etc (Checkliste für Musterverträge).

Die bestgehüteten Datensätze sind wertlos, wenn nicht die dazugehörigen Probeflächen im Gelände so instand gehalten werden, dass sie auch nach Jahrzehnten wieder aufgemessen werden können. Die genaue Dokumentation nicht nur von Forschungsergebnissen, sondern aller, aus heutiger Sicht scheinbar belanglosen Vorkommnisse in den NWR ist notwendig. Forschung in Natur­waldreservaten ist Langzeitforschung. Diese kostet Zeit und Ressourcen.

Aber nun wird’s interessant: Die langjährigen Beobachtungsflächen werfen Früchte ab. Der Wert der Beobachtungsflächen steigt geradezu exponentiell mit der Dauer ihres Bestandes. Vieles ist nicht untersucht. Wir finden eine Akkumulation der Biomasse, wissen aber nichts über die CO2-Speicherung in den Böden, Zersetzungsraten, Veränderungen in der krautigen Vegetation, Habitatelemente und Habitatqualität.

Jedes Naturwaldreservat ist etwas Einzigartiges, ein Unikat. Die Eigentümer und Eigentümerinnen können stolz auf ihre Flächen sein. Das ist die beste Gewähr dafür, dass das Naturwaldreservate-Programm langfristig funktionieren kann (Bildergalerie für Österreichs Naturwaldreservate, pdf).