Vom Wissen zum Handeln

Unumstritten brauchen Menschen den Wald als Erholungsraum und damit für eine große Zahl an Freizeitaktivitäten. Bewegung ist für die Gesundheit gut, die klare Luft sorgt für einen erholsamen Ausgleich für die feinstaubbelastete Lunge, die mit Ausnahme der Naturgeräusche vorhandene Ruhe und die olfaktorischen oder optischen Sinneseindrücke vermitteln Entspannung in einer ansonsten von Hektik, Lärm und Reizüberflutung geprägten Welt.

Das Waldinnenklima gleicht Extreme wie Hitze, Kälte, Starkwind und Luftfeuchtigkeit aus und es besteht ein Gefühl, sich frei bewegen zu können, wann und wo es einem beliebt. So nutzen Menschen in ihrer Freizeit auf unterschiedlichste Art im Sommer und Winter, meist bei Tag, aber auch zunehmend in der Dämmerung und bei Nacht den Wald in vielfältigster Weise – einerseits auf markierten Wegen, andererseits aber auch immer mehr abseits jeder Infrastruktur. Sie orientieren sich bei der Freizeitnutzung zwar bisher immer noch zum Großteil an Wegschildern und Markierungen, doch die Möglichkeiten moderner Navigationsgeräte zeigen den Fortgang des Weges oder der Abfahrt auch abseits jeder touristischen Angebote.

Für Wildtiere ist aber das Störpotenzial "unkalkulierbarer" Freizeitaktivitäten besonders groß. Das gilt besonders für die Wintermonate, in Reproduktionsperioden und in Dämmerungs- und Nachtzeiten. Warum ist das so?

Wildtiere brauchen Ruhe und reagieren unterschiedlich auf Störreize

Der "Charakter" von Wildtieren ist geprägt unter anderem durch die Scheu vor dem Menschen – das Wildtier fürchtet im Menschen vor allem den Jäger, der ihm nachstellt und es tötet. So ist mangels Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Jagenden und Nichtjagenden jeder Mensch ein vermeintlicher "Prädator" und stellt für Wildtiere eine Bedrohung dar. Daher ist das Raum-Zeit-Verhalten von Wildtieren neben der Notwendigkeit des Nahrungserwerbs und der Fortpflanzung auch dadurch geprägt, dass die Teile unserer Landschaft von Wildtieren aufgesucht werden, die vom Menschen nicht oder nur zu bestimmten Tages- oder Jahreszeiten genutzt werden. Das "Menschen-Meide-Verhalten" ist bei sehr vielen Tierarten deutlich ausgeprägt. Neuere Untersuchungen zeigen beispielsweise, dass Nahbereiche von Wegen von Rotwild entweder grundsätzlich gemieden oder nur tagsüber gemieden und bei Nacht bevorzugt aufgesucht werden, wenn die dort vorhandene gute Nahrung ungestört aufgenommen werden kann. Auch für das Auerhuhn ist die Meidung touristischer Infrastruktur nachgewiesen: Untersuchungen im Schwarzwald haben gezeigt, dass Auerhühner die Nähe zu Wanderwegen und Mountainbike-Trails meiden. Dadurch geht wertvoller Lebensraum entlang von Wegen verloren. Betrachtet man alle Wanderwege und Mountainbike-Trails im Schwarzwald, zeigt sich, dass im Sommer bis zu 20 Prozent des gesamten Auerhuhn-Verbreitungsgebiets durch Erholungssuchende beeinflusst wird.

Wildtiere haben aber auch in ihrem Verhaltensportfolio Möglichkeiten entwickelt, um auf die durch den Menschen ausgelösten Störreize reagieren zu können. Sie können zum Beispiel ihr Verhalten anpassen, indem sie die von Menschen genutzten Bereiche meiden und "ruhige" Gebiete aufsuchen. Oder sie können sich an Störreize gewöhnen, indem sie trotz der Störreize ihren Lebensraum nutzen, da sie gelernt haben, dass die Störungen "ungefährlich" sind. Sowohl für die Anpassung als auch für die Gewöhnung gilt, dass nur eine für das Wildtier "kalkulierbare" beziehungsweise "vorhersehbare" Störung dieses Verhalten ermöglicht.

Unkalkulierbare Störungen können dagegen unterschiedlich auf Wildtiere wirken: Dies reicht von einer direkten Fluchtreaktion, über eine signifikante Änderung des Raum-Zeit-Verhaltens bis zu einem erhöhten Level der Stress-Hormone.

Räumliche Konzeptionen – Menschen und Wildtiere im Einklang

Um die Ansprüche des Menschen und die Bedürfnisse der Wildtiere in Einklang zu bringen, sind räumliche Konzeptionen notwendig, die folgende Bedingungen erfüllen:

  • Einbeziehung aller menschlichen Nutzungen und Freizeitaktivitäten
  • "Lenkung" der Wildtiere durch:
    • Etablierung von Ruhebereichen
    • Anpassung des jagdlichen Managements
    • Lebensraumgestaltung durch Land- und Forstwirtschaft
  • Weiterentwicklung des touristischen Angebots unter Einbeziehung von Wildtieraspekten
  • "Lenkung" des Menschen durch:
    • Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung im Hinblick auf die Bedürfnisse von Wildtieren
    • Durchführung von Kampagnen und Verbreitung wildtierökologischer Informationen
    • Schaffung von Identifikation mit der Etablierung von Ruhebereichen
    • Weiterentwicklung des touristischen Angebots unter Einbeziehung von Wildtieraspekten
    • Förderung von Akzeptanz für die Einhaltung räumlicher Konzeptionen
    • Schaffung von rechtlichen Restriktionen in besonderen Konfliktsituationen, beispielsweise durch die Etablierung von Wildruhegebieten nach §42 Jagd- und Wildtiermanagementgesetz (JWMG) mit angepassten Kontrollen.

Bei der "Lenkung" des Menschen ist wichtig zu wissen, was sein Verhalten steuert, wo und warum er Wege verlässt und wie die verschiedenen Akteurinnen und Akteure bei der Entwicklung von räumlichen Konzeptionen beteiligt werden können. Nur durch eine ausreichende Partizipation und einer daraus resultierenden Identifikation kann sichergestellt werden, dass die Regeln von räumlichen Konzeptionen eingehalten und die notwendigen Maßnahmen umgesetzt werden. In der Abb. 2 und Tab. 1 ist dargestellt, wie eine "Räumliche Konzeption" strukturiert sein könnte. Ein Positivbeispiel einer Räumlichen Konzeption wurde mit der Rotwildkonzeption Südschwarzwald schon 2008 umgesetzt, die derzeit von der FVA evaluiert und gemeinsam mit der AG Rotwild weiterentwickelt wird. Auch im "Rotwildprojekt Nordschwarzwald" werden derzeit wissenschaftliche Grundlagen für eine Räumliche Konzeption geschaffen, die in einem breit angelegten partizipativen Prozess als Basis für die "Rotwildkonzeption Nordschwarzwald" erarbeitet wird.

Tab. 1: Mögliche Leitplanken für die anthropogene Nutzung im Rahmen einer Räumlichen Konzeption.
BereichRahmenFreizeitaktivitätenWaldwirtschaftJagd
1 a
Wildruhebereich
Vorrang Wildtiere => Keine bzw. zeitlich eingeschränkte anthropogene Nutzung.KeineDem Wildtiervorkommen angepasste Zielsetzung.

Zeitliche Einschränkung 4 Wochen im Herbst (Ausnahme: Katastrophen).

Keine bzw. zeitlich auf 1 bis 2 Wochen im Herbst beschränkt.
1 b
Wildkernbereich
Wildtiere sind ein zu berücksichtigender Standortfaktor.Vom 1.11. bis 15.7. infrastrukturgebunden;

wenn “neue“ Infrastruktur, Beseitigung "alter" Infrastruktur;

Schaffung von Angeboten "Wildtiererlebnis"

Wildtiere als Standortfaktor in die Zielsetzung aufnehmen.Keine Jagd während Winterruhe.

Verkürzung von Jagdzeiten, z.B. Intervalljagd.

2 b
Übergangsbereich
Die Bedürfnisse von Wildtieren sind auch zu beachten.Aktivitäten nur während des Tages, Schaffung von Angeboten "Naturerlebnis"Freizeitaktivitäten als Standortfaktor mit aufnehmen.Regelungen JWMG
2 a
Walderlebnisbereich
Vorrang FreizeitaktivitätenNeue Angebote, auch für Nachtaktivitäten. Großveranstaltungen, EventsDen Freizeitaktivitäten angepasste Zielsetzung (z.B. Erholungswald).Einschränkungen der Jagd durch Freizeitaktivitäten (räumlich, jahres-, tageszeitlich)

 

Die aufgezeigte Thematik ist auch eine der Schwerpunktaufgaben bei der Umsetzung des JWMG. Zu diesem Zweck wurde im Frühjahr 2017 der Initiativkreis "RespektWildtiere" beim Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz gegründet. Der von der FVA mit wissenschaftlichen Arbeiten unterstützte Initiativkreis soll mit seinen Mitgliedern aus der Jagd, des Naturschutzes und des Freizeitsektors Maßnahmen zum Zweck der Störungsreduktion von Wildtieren bündeln und koordinieren. Weitere Informationen und Anregungen zu Wildtieren und wildtierfreundlichem Verhalten gibt auch die Initiative "Bewusstwild" des Vereins Wildwege e.V.