Der Aletschwald auf rund 2000 m. ü. M. zählt zu den eindrücklichsten Wäldern der Schweiz. Mächtige Arven und Lärchen trotzen oberhalb des Aletschgletschers dem rauen Klima des Hochgebirges. Dazwischen recken winzige Sämlinge ihre Köpfe dem Licht entgegen. Totholz modert vor sich hin. Vögel und Insekten finden in den zahlreichen Höhlen und Rissen der zum Teil mehrere hundert Jahre alten Stämme Unterschlupf und Nistmöglichkeiten. Auf der nahe gelegenen Jungmoräne, die der Aletschgletscher vor rund 150 Jahren freigegeben hat, hat sich ein Lärchen-Pionierwald etabliert, in dem unzählige kleine Lärchen um ihren Platz kämpfen. Der Wald ist von einer beeindruckenden Vielfalt geprägt.

Das war jedoch nicht immer so. Noch Anfang des letzten Jahrhunderts nutzten die Menschen den Aletschwald intensiv. Sie sammelten Brennholz und Heidelbeeren, liessen Rinder und Ziegen darin weiden oder fällten Bäume für den Eigenbedarf oder den Verkauf. Die Einzigartigkeit des Waldes drohte verloren zu gehen. 1933 pachtete die Naturschutzorganisation Pro Natura das Gebiet und stellte es zusammen mit dem Kanton Wallis unter Schutz, um den Wald langfristig zu erhalten und eine natürliche Waldentwicklung zu ermöglichen.

Zwei Berichte beschreiben die Entwicklung des Aletschwaldes

In den vergangenen 70 Jahren beobachteten die Forschenden der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL und der ETH Zürich, wie sich der Aletschwald entwickelt. 1942, 1962, 1982 und 2012 vermassen sie in aufwändigen Inventuren – sogenannten Vollkluppierungen – alle Bäume ab einem Stammdurchmesser von vier Zentimeter in 1.30 m Höhe. 2012 erfassten sie zusätzlich an allen Bäumen mit einem Durchmesser von mindestens 36 Zentimeter die sogenannten Habitatstrukturen wie Rindenverletzungen, Löcher, Höhlen, Risse und Kronentotholz – wichtige Lebensräume für Vögel und Insekten. Die Forschenden führten zudem eine Stichprobeninventur durch, erstmals auch in dem 1999 dazu gekommenen Reservatteil im Westen und Süden, um sich ein umfassendes Bild von den Waldstrukturen zu machen.

Dank der kontinuierlichen Erforschung des Aletschwaldes über sieben Jahrzehnte hinweg ist es heute möglich, die Entwicklung der beiden charakteristischen Waldtypen – des Lärchen-Arven-Altbestandes und des Lärchen-Pionierwaldes – umfassend zu beschreiben. Die WSL hat die Datenreihen ausgewertet und die Ergebnisse in zwei Berichten publiziert.

Baumgiganten als wertvolle Lebensräume für Vögel und Insekten

Die wichtigsten Ergebnisse: Obwohl im Lärchen-Arven-Altbestand immer noch deutliche Spuren der früheren Nutzung erkennbar sind, etwa abgesägte und noch kaum vermoderte Wurzelstöcke, hat sich dieser Wald innert 70 Jahren klar in Richtung eines Naturwaldes entwickelt. Er ist heute erheblich dichter. Verglichen mit 1942 hat sich die Anzahl Bäume etwa vervierfacht. Pro Hektar wachsen zudem rund sieben sogenannte Giganten, Bäume mit einem Stammdurchmesser von mindestens 80 Zentimetern, wie sie in bewirtschafteten Wäldern kaum noch zu finden sind. In diesen dicken Bäumen fanden die Forschenden zahlreiche Löcher, Höhlen und Risse – wichtige Lebensräume für Vögel und Insekten. Die Zusammensetzung der Baumarten hat sich hingegen nur wenig verändert.

Der Aletschwald wird immer noch von der Arve dominiert. Doch die Lärche hat in den vergangenen Jahrzehnten ihren Anteil erhöht und auch Laubbäume wie Birke, Alpenerle, Vogelbeere und Weiden sind heute im Reservat vereinzelt zu finden. Pro Hektar fanden die Forschenden ausserdem 24 Kubikmeter Totholz, was deutlich mehr als in einem durchschnittlichen Schweizer Wald, im Vergleich zu einem Urwald allerdings immer noch sehr wenig ist.

Waldverjüngung gefährdet

Direkt neben dem Lärchen-Arven-Altbestand hat sich auf der 1942 noch weitgehend baumlosen Jungmoräne ein dichter Lärchen-Pionierwald angesiedelt. Für die Forschenden war es spannend zu sehen, dass sich innert 70 Jahren praktisch aus dem Nichts ein kleiner Wald etablieren konnte. Giganten fehlen in diesem Jungwald allerdings noch vollständig und auch Habitatstrukturen mit totem Holz sind selten.

Trotz der festgestellten, positiven Entwicklung gibt es einen Wermutstropfen: Seit 1982 beobachten die Forschenden, dass die Anzahl kleiner Bäume nicht mehr zunimmt oder sogar schrumpft. Insbesondere im Lärchen-Arven-Altbestand wachsen deutlich weniger Jungbäume nach als für die langfristige Walderhaltung nötig wäre. Alles deutet darauf hin, dass der grosse Hirschbestand die natürliche Waldverjüngung hemmt und dadurch die langfristige Zukunft des Aletschwalds gefährdet.

Diese Ergebnisse der Aletschwald-Forschung gaben Anstoss zur Bildung einer Arbeitsgruppe, die sich nun dieses Problems annimmt. Vertreter der Waldeigentümer, der beiden Dienststellen für Wald und Landschaft sowie für Jagd, Fischerei und Wildtiere des Kantons Wallis sowie von Pro Natura wollen gemeinsam Lösungen finden, um den Aletschwald und seine einmalige Vielfalt langfristig zu sichern. Ob es gelingt, könnte eine nächste Inventur im Jahr 2032 zeigen.