Dieser Artikel ist der erste Teil einer dreiteiligen Serie zur Entwicklung der agrarischen Waldnutzungen in der Schweiz von 1800 bis 1950:

Teil 1: Waldweide, Waldheu, Nadel- und Laubfutter
Teil 2: Nadel- und Laubstreue
Teil 3: Waldfeldbau, Waldfrüchte und Harz

Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war der europäische Wald integraler Bestandteil des agrarischen Lebens- und Produktionsraums. Waldweide, Waldfeldbau, Viehfutter- und Streuentnahme sowie Gewinnung von weiteren hauswirtschaftlichen oder nebengewerblichen Produkten wie Harz, Gerberlohe, Wildkräutern und Beeren standen im "landwirtschaftlichen Nährwald" gleichberechtigt neben der Holzproduktion. Sie wurden erst im Zuge der aufkommenden Forstwissenschaft als "Nebennutzungen" bezeichnet. Agrarische Nutzungen prägten den europäischen Wald auch noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert, unmittelbar bevor sich die forst- und landwirtschaftlichen Bereiche trennten.

1) Waldweide

Der damalige bernische Kantonsforstmeister Franz Fankhauser hat 1880 den prinzipiellen Interessengegensatz zwischen Holzproduktion oder Waldweide klar ausgesprochen:

"Am ergiebigsten ist die Waldweide in Schlägen oder ganz jungen Waldbezirken, die sich noch nicht geschlossen haben, und in lückigen, ungleichmässigen Beständen, wie sie grösstentheils der ungeregelte Plänterwald aufweist, während in schlagweise behandelten geschlossenen Waldungen dieselbe so zu sagen auf Null herabsinkt. Der Nachtheil der Waldweide besteht jedoch darin, dass die jungen Pflanzen von dem weidenden Vieh durch Abbeissen und Zertreten beschädigt werden, so dass gewöhnlich mit der grössten Ergiebigkeit der Weide auch der grösste Nachtheil für die Holzproduktion verbunden ist, weshalb die Waldweide im Allgemeinen als eine den Waldungen schädliche Nutzung zu bezeichnen ist."

Schädlichkeitsrangliste: Von der Ziege zum Schwein

Man versteht unter Waldweide zunächst einmal wertfrei die Beweidung eines mit Wald bestockten Grundstückes mit Vieh. Bezüglich der Tierkategorie wird Schmalvieh- und Grossviehweide unterschieden, bezüglich der Futterkategorie Bodenweide (Gras, Kraut, Moose, Flechten, Pilze), Holzweide (Blätter, Zweige, Rinde, Knospen der Bäume und Stauden) und Erdweide (Wurzeln, Insekten, Würmer). Letztere bildete als Untermast zusammen mit der Obermast aus Eicheln und Buchnüsschen die Grundlage für die Mastnutzung, die gewöhnlich streng von der Weidnutzung getrennt nur mit Schweinen ausgeübt wurde (Acherum).

Mögliche Waldschäden durch Beweidung sind Bodenverdichtung, Erosion, Jungwuchsverbiss und Zuwachsverlust. Art und Ausmass der Schäden wurden von der Zusammensetzung der weidenden Herden bestimmt (Kopfzahl, Altersstruktur und Tierart), wobei in der Negativrangliste die Ziege vor dem Schaf, dem Pferd, dem Rindvieh und dem "unschädlichen" Schwein zu stehen kam. Zentrale Faktoren waren aber auch Dauer, Häufigkeit und jahreszeitliche Verteilung der Beweidung, Waldtyp und natürlicher Standort sowie die Waldbewirtschaftung mit den gewählten Intensitätsgraden, Betriebszielen und Waldbauverfahren. Die stete Beweidung erlangte mit der Zeit fast die Bedeutung eines Standortfaktors, der auch Auswirkungen auf das Vorkommen oder Fehlen der Holzarten zeigen konnte.

Entkoppelung von Wald und Weide

Die Beweidung der Wälder war bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der ganzen Schweiz die Regel, ja, vielerorts beruhte der wirtschaftliche Wert der Wälder sogar mehr auf der Weide als auf der Holznutzung. Dies galt ganz besonders für die Schweinemast im Wald (Acherum), lange Zeit praktisch die ausschliessliche Fütterungsform der Schweine. Man bewertete diese Nutzung vom waldbaulichen Standpunkt keineswegs nur negativ, denn die Schweine lockern dabei den Boden auf und fressen zahlreiche Schädlinge (Engerlinge, Larven, Schnecken usw.). Das Acherum verlor jedoch im Gefolge der Agrarmodernisierung rasch seine überragende Bedeutung und schon im frühen 19. Jahrhundert waren kaum mehr Schweine im Wald anzutreffen.

Über einen sehr viel längeren Zeitraum erstreckte sich dagegen die Entkoppelung von Wald und Weide bei den anderen Tierarten. Bis um die Mitte des Jahrhunderts scheint die Waldweide im schweizerischen Mittelland mindestens für das Grossvieh (Abb. 1) grösstenteils verschwunden zu sein. Dahinter steht das Zusammenspiel zwischen der Forstmodernisierung, welche die Waldweide nicht mehr dulden wollte, und der Agrarmodernisierung, welche sie zunehmend überflüssig machte.

Spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts scheint auch der Ziegenweidgang (Abb. 2) im Flachland nicht mehr von nennenswertem Umfang gewesen zu sein; die zahlenmässig immer noch zunehmenden Ziegen wurden vor allem als sogenannte "Heimgeissen" im Stall gefüttert. Nach 1890 verloren die Ziegen unter dem Einfluss stagnierender Milchpreise und steigender Löhne zunehmend ihre Funktion als "Kuh des armen Mannes".

Die Ablösung der Waldweide in den Alpen, im Jura und im Tessin zog sich dagegen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Ein wichtiger Ausgangspunkt war der "Bericht an den hohen schweizerischen Bundesrath über die Untersuchung der schweizerischen Hochgebirgswaldungen" von 1862, der sogenannte Landolt-Bericht, der die These einer Verbindung zwischen der Weide in den Gebirgswäldern und den Überschwemmungen im Vorland weiter untermauerte.

Ökologische Auswirkungen der Waldweide

In den letzten Jahren ist es zu einer teilweisen Neuinterpretation der Folgen der Waldweide gekommen, da mit der Aufgabe der Beweidung von Waldbeständen auch die durch die Waldweide geschaffenen Habitate verschwunden sind und mit ihnen die entsprechenden Arten. Tendenziell führt die Beweidung zu lückigen Beständen, wodurch die Verhältnisse für lichtbedürftige Pflanzen günstiger werden.

In diesem Zusammenhang steht auch die oftmals gehörte Forderung nach der Schaffung Lichter Wälder. In der Diskussion pro und contra Waldweide dürfen die grossen Veränderungen in der Land- und Forstwirtschaft nicht ausser Acht gelassen werden. So ist bezüglich der gebietsweisen Wiedereinführung oder Beibehaltung der Waldweide mit Rindern zu beachten, dass ältere Rinderrassen leichter sind und dadurch geringere Trittschäden verursachten als die meisten der heute verbreiteten Rassen.

2) Viehfutter

Die historische Bedeutung von Laub, Reisig und Waldkräuter als Futter für das Vieh kann kaum überschätzt werden. Unentbehrlich waren sie insbesondere in der futterknappen Zeit im Winter und im Frühling, wenn der Heuvorrat aufgebraucht und das Gras noch nicht ausgetrieben war.

Futterlaub
Die Futterlaubgewinnung erfolgte in zwei unterschiedlichen Techniken: Entweder entfernte man das Laub samt den Ästen ("schneiteln", "fäschen", "stumpen"), welche später zusätzlich als Brennholz ("Wedelen") genutzt werden konnten (Abb. 3). Oder aber man erntete nur das Laub und streifte die Blätter noch am Baum von den Zweigen ("lauben", "bromen", "chööle", "rappa", "streifen"). Typisch war die "Schneitelung" im Zweijahresrhythmus mit "Lauben" in den Zwischenjahren.

Umstritten ist, welchen Nährwert das Laubfutter aufwies. Die einen bezeichneten ihn als so gering, dass pro Kuh und Halbjahr rund 1000 Laubbündel nötig seien, während andere optimistischer waren und den Nährwert in die Nähe der Heues mittlerer Qualität veranschlagten. Die beliebtesten Futterlaubbäume waren Esche, Feldahorn, Ulme, Schwarzpappel, Linde, Eiche und Bergahorn.

Schneitelung ist der Rückschnitt von Bäumen zur Gewinnung der Triebe.

Quelle: Wikipedia

Nadelfutter
Nicht nur Blätter von Laubgehölzen, sondern auch die Nadeln dienten als Futter (Abb. 4). Besonders im Frühling mischten man den Laub als Notfutter auch Nadeln ("Chris", "Gris") bei. Am liebsten verfütterte man Nadeln der Weisstanne und, während der Vegetationsperiode, der Lärche, im Oberengadin auch der Arve. Aufgrund ihrer weiten Verbreitung griff man aber am häufigsten zu Fichtenzweigen, während die Föhre nicht verwendet wurde.

Waldheu
Dieselbe Funktion wie das Futterlaub hatten die verschiedenen Waldkräuter (Gräser, Himbeerstauden, Waldreben, Farn usw.). Man bezeichnete diese als "Waldheu", resp. "Waldgras", wobei in der zeitgenössischen Terminologie die Abgrenzung zum "Wildheu" fliessend war. Voraussetzung waren die zahlreichen Waldblössen, entstanden durch Windwurf, Schneebruch, Holzschlag oder Lawinen, auf denen je nach Bodenbeschaffenheit und Klima in unterschiedlichster Zusammensetzung trockener Rasen bis krautige Vegetation entstand.

Laubfutternutzung zumeist ausserhalb des Waldes

Die Nutzung von Futterlaub, Futternadeln und Waldheu für das Vieh geht weit in die frühgeschichtliche Zeit zurück, die noch im 19. Jahrhundert in den höheren Lagen der Schweiz häufig betrieben wurde. Die Laubfuttergewinnung war für viele Bauern unentbehrlich und diente in erster Linie der Ziegenfütterung im Winter. Sie erfolgte häufig ausserhalb des Waldes, d.h. in der Nähe der Gebäude, entlang von Wegen, Wasserläufen und Eigentumsgrenzen, oder auf geringwertigen und versumpften Wiesen. Sie begann sich zunehmend in die Peripherie zu verlagern, sozial zu den Landarmen und Landlosen, räumlich in den Jura, die Alpen und das Tessin.

Beispielsweise wurden noch im frühen 20. Jahrhundert in gewissen Gegenden wie dem Wallis oder dem Vorderrheintal in einer Höhenstufe zwischen etwa 700 und 1500 m praktisch sämtliche - oft hauptsächlich zu diesem Zweck angepflanzten - Eschen geschneitelt. In anderen Landesteilen begann sich die Futterlaubnutzung dagegen auf Extremjahre zu beschränken

Weil man innerhalb des Waldes praktisch nur noch im ohnehin stark zurückgehenden Niederwald schneitelte, scheint die Nadel- und Laubfuttergewinnung sehr viel weniger mit den forstlichen Zielen in Konflikt zu stehen als die anderen agrarischen Nutzungen wie Viehweide, Streuentnahme und auch die mit der Futterlaubnutzung funktional verwandte Waldheunutzung. Als Waldheu nutzte man nicht nur Gras, sondern auch zahlreiche andere Waldpflanzen wie Weichhölzer, Hasel-, Hollunder-, Himbeer- und Brombeersträucher, Waldreben usw.

Ökologische Auswirkungen von Schneitelung und Waldheunutzung

Die Bedeutung der Schneitelung für die Ökologie und im starken Masse auch für das Landschaftsbild liegt in der gezielten Förderung von Einzelbäumen im Offenland. Bei dieser gezielten Förderung kamen insbesondere Eschen und Ulmen zum Zuge. Die ökologische Bedeutung der Waldheunutzung liegt in erster Linie in der Offenhaltung von Blössen im Wald. Wie die meisten agrarischen Waldnutzungen führte also auch die Waldheunutzung zu vorratsärmeren, lichteren Wäldern.

 

(TR)