Einer der kleinsten Vögel Europas ist gleichzeitig einer der lautesten: der Zaunkönig. Er macht vor allem durch seinen Gesang auf sich aufmerksam. Die meiste Zeit versteckt er sich in dichtem Gestrüpp und bewegt sich eher hüpfend als fliegend durchs Unterholz. Für den Bau seiner kugelförmigen Nester ist der Zaunkönig auf dichte Hecken sowie liegendes Totholz im Wald angewiesen.

Schnee bedeckt die Landschaft. Die Natur ist in der Winterpause, im Wald ist kein Vogelgesang zu vernehmen. Doch plötzlich schmettert ein Vogel sein Lied aus dem Unterholz hervor. Die kräftige Stimme gehört einem Zaunkönigmännchen, das bereits im Februar energisch sein Revier verteidigt. In einer Entfernung von einem Meter erreicht der Vogel bis zu 90 Dezibel mit seinem Gesang, er ist damit so laut wie ein Presslufthammer.

Die Lautstärke täuscht darüber hinweg, dass der Zaunkönig (Troglodytes troglodytes) einer der kleinsten Vögel Europas ist, nur Winter- und Sommergoldhähnchen sind kleiner. Sein märchenhafter Name, das kecke Auftreten und seine Winzigkeit machen den Zaunkönig zu einer unserer beliebtesten und bekanntesten Vogelarten.

Geflügelte Maus im Unterholz

Zu Gesicht bekommt man einen Zaunkönig eher selten, obwohl er mit 400’000 bis 550'000 Brutpaaren (2013-2016) in der Schweiz zu den häufigen Arten gehört. Er hält sich vornehmlich in Bodennähe auf und klettert mausähnlich im dichten Gestrüpp, im Wurzelwerk von umgestürzten Bäumen und in Ast- und Reisighaufen umher.

Mit seinem spitzen, leicht gebogenen Schnabel sucht er dort Spinnen, Weberknechte, Motten, Fliegen und andere Insekten. Im Frühling, wenn das Blattwerk noch nicht voll ergrünt ist und der Zaunkönig balzt, sind die Chancen am grössten, ihn zu beobachten. Dann verlässt er auch für einen Moment das Gebüsch und trillert seinen Gesang von einer Warte aus, den Kopf nach links und rechts drehend.

Erspäht man einen Zaunkönig, ist man sich sofort sicher, um welchen Vogel es sich handelt. Mit seinem steil aufgerichteten Schwanz, dem rostbraunen Gefieder mit dunkler Querbänderung am Rücken und dem hellen Überaugenstreif ist er, zusammen mit seiner Winzigkeit, unverwechselbar. Die kurzen, runden Flügel machen den Zaunkönig zu einem schlechten Flieger der – abgesehen vom Zug – nur kurze Strecken fliegt und offene Flächen meidet. Die langen Läufe sind an den ebenfalls langen Zehen mit starken Krallen ausgerüstet, mit denen der Vogel ähnlich wie ein Baumläufer auch senkrechte Baumstämme hochklettern kann. Unterscheiden lassen sich Männchen und Weibchen ausschliesslich anhand des Verhaltens: nur die Männchen singen, nur die Weibchen brüten. Bodenfeinde vertreibt der Zaunkönig laut schimpfend. Nähert sich Gefahr aus der Luft, flüchtet er in ein sicheres Versteck.

Königlicher Name

Nach einer Fabel des griechischen Erzählers Äsop (600 v. Chr.) beschlossen die Vögel, denjenigen unter ihnen zum König zu machen, der am höchsten fliegen kann. Der listige Zaunkönig versteckte sich im Gefieder des Adlers. Als dieser in die Höhe flog und schon glaubte, am Ziel zu sein, flog der ausgeruhte Zaunkönig über den Adler hinaus und rief "König bin ich!". Erzürnt sperrten die Vögel den Zaunkönig in ein Mausloch, aus dem er aber wieder entkam. Seither lebt der Vogel aus Angst entdeckt zu werden im Unterholz. Diese Fabel ist in vielen Sprachen überliefert worden. Die Gebrüder Grimm übernahmen die Erzählung 1812, schmückten sie aus und integrierten sie in ihre Märchensammlung. Auch in anderen Sprachen ranken sich Märchen um den königlichen Vogel.

Die Beliebtheit des Vogels drückt sich in unzähligen Trivialnamen aus, die sich meist auf das Vorkommen in Hecke und Zaun oder auf die Königswürde beziehen. Allein im deutschsprachigen Raum ist die Liste lang: Haagschlüferli, Müserli, Studeritschger, Schiterchingeli , Zaunschlüpfer oder Haghäxli in der Schweiz, in Deutschland Zaunsänger, Schneekönig, Mäusekönig, Zaunschnerz oder Backöfelchen, in Österreich Kinivögerl, Zaunschliefer oder Pfutschepfeil.

Es gibt wohl kaum ein anderes Tier, das so viele Namen trägt. Der wissenschaftliche Name "troglodytes" geht auf das griechische Wort "troglodyt" zurück, was "Höhlenbewohner" bedeutet. Dies trifft eigentlich nicht zu, der Name bezieht sich wohl eher auf das höhlenartige Nest, das der Zaunkönig baut.

(Fast) überall zu Hause

Unser Zaunkönig kommt in mehreren Unterarten von Nordamerika über Europa und Russland bis nach Japan vor, von den Küsten der Nord- und Ostsee bis hinauf in die Alpen und Karpaten. In Mitteleuropa ist der Zaunkönig Standvogel und Teilzieher. Die Zaunkönige Skandinaviens, der baltischen Staaten und Russlands ziehen im Herbst in wärmere, südlichere Gebiete, ebenso wechseln die Bewohner der Alpenwälder in tiefere Lagen. Mithilfe von Wiederfängen konnte gezeigt werden, dass Zaunkönige trotz ihrer geringen Grösse Strecken von 40 bis 50 Kilometern pro Tag zurücklegen können. Den Rekord unter den Zaunkönigen für die längste zurückgelegte Zugstrecke hält ein Vogel, der auf Gotland (S) beringt und in Südspanien 2800 Kilometer entfernt gefunden wurde.

Der Zaunkönig fühlt sich in verschiedenen Lebensräumen wohl. Er hat aber eine Vorliebe für unterholzreiche Laub- und Mischwälder mit hoher Bodenfeuchtigkeit und genügend Totholz, da er seine Nester gerne in Asthaufen, in Wurzeltellern, unter Reisig oder in Höhlungen von Baumstrünken und Stämmen baut. Falls man im Garten die eine oder andere Ecke der Natur überlässt, so kann man den Zaunkönig auch inmitten von Siedlungen beobachten.

Lebt der Zaunkönig im Frühling und Sommer hauptsächlich in Wäldern, wechselt ein grosser Teil der Vögel auf den Winter hin ihren Lebensraum. Viele suchen Gewässer auf, wo es auch in der kalten Jahreszeit genügend Insekten gibt. Sehr beliebt sind im Winter Riedflächen, vor allem das Schilfröhricht. Doch auch mitten in Siedlungen, zum Beispiel an Komposthaufen, finden die Vögel noch Futter. Um sich in kalten Winternächten warm zu halten, bilden Zaunkönige Schlafgemeinschaften von bis zu 10 oder mehr Vögeln. Dabei ordnen sie sich im Kreis an, in der Mitte die Köpfe, die Schwänze gegen aussen gestreckt. Oft schlafen die kleinen Federbälle im Winter an oder in Gebäuden. Wenn es besonders kalt ist, vertragen sich auch die sonst aggressiv ihr Revier verteidigenden Männchen.

Bauwütiger Don Juan

Gleich nach der Reviergründung im Frühling beginnt das Männchen, mehrere Nester in Rohform zu bauen, die es den Weibchen lautstark anpreist. Als Baumaterial verwenden die Vögel Moos, dürres Laub, Halme, Ästchen und Würzelchen. Gebaut wird mit feuchtem Material, das nach dem Trockenwerden aushärtet und so dem Nest Halt verleiht. Die kugeligen Nester vom Typ "Backofenbau" befinden sich meist in Bodennähe im Dickicht, in Wurzeltellern von umgestürzten Bäumen oder in ausgewaschenen Wurzelstöcken am Bachufer. Mehrmals am Tag inspiziert das Männchen seine Nester und verteidigt sein Revier gegen andere Männchen.

Zwei bis drei Nester muss ein Männchen schon zur Auswahl bieten, damit es Chancen bei den Weibchen hat; gelegentlich sind es bis zu 12 Wahlnester. Nähert sich ein Weibchen, wird der Gesang des Männchens abgehackt und leiser, bis schliesslich nur noch ein Wispern zu vernehmen ist. Das Männchen präsentiert dem Weibchen eines der Nester, indem es das Nest anfliegt und singend seinen Kopf hinein steckt. Zeigt das Weibchen Interesse am Nest, kommt es zur Paarung.

Von nun an ist das Weibchen für das gewählte Nest zuständig. Es polstert das Innere mit Federn, Moos, Haaren und Wolle aus und legt 5 bis 7 winzige Eier von knapp über 1 Gramm. Das Männchen kümmert sich vorerst nicht mehr um die Nachkommen. Es ist vielmehr damit beschäftigt, weitere Weibchen in sein Revier zu locken und ihnen ein Nest anzubieten: Der Zaunkönig neigt zu Polygynie, also Vielweiberei, wenn das Nahrungsangebot und die Lebensraumqualität stimmen.

Nach 13 bis 15 Tagen schlüpfen die Jungen und bleiben bis 19 Tage im Nest, bevor sie ausfliegen. Das Männchen hält sich meist in der Nähe des Nests auf, füttert das Weibchen aber nur selten. Fliegen die Jungvögel aus, werden sie meist vom Männchen geführt. Die Brut ist nach dem Ausfliegen noch bis zu 18 Tage gemeinsam unterwegs und übernachtet auch zusammen in einem der Wahlnester. Auf eine erfolgreiche Erstbrut folgt im Juni meist eine Zweitbrut.

Mut zur Unordnung

In der Schweiz wie auch im übrigen Europa sind die Bestände des Zaunkönigs momentan nicht gefährdet. Harte Winter können zwar zu grossen Bestandseinbrüchen führen, diese werden aber meist innert wenigen Jahren wieder ausgeglichen. Die Qualität der Lebensräume des Zaunkönigs nimmt jedoch stetig ab; die Gärten werden zunehmend steril, die Wälder sind nach starken Durchforstungen strukturarm. Mit ein paar einfachen Massnahmen lässt sich dieser Missstand beheben. Etwas Mut zur Unordnung verwandelt unsere Gärten in wahre Naturparadiese: Aufgeschichtete Asthaufen, Zäune aus Ästen, dichte, unterholzreiche Hecken aus einheimischen Sträuchern wie Vogelbeere, Weiss- und Schwarzdorn oder Schwarzem Holunder wirken Wunder.

Auch im Wald profitiert der Zaunkönig – und mit ihm viele anderer Tiere – vom Motto "weniger Aufwand ist mehr". Liegen gelassene Asthaufen, umgestürzte oder abgestorbene Bäume, die stehen oder liegen gelassen werden, und feuchte Waldböden bieten dem Zaunkönig Unterschlupf, Nistmöglichkeiten und Nahrung. Ein solch naturnaher, totholzreicher Wald beherbergt eine enorme Artenvielfalt.