Die Moderne ist für Raubtiere das Zeitalter der Renaissance. Das gilt nicht nur für Luchs, Wolf und Bär: Der Fuchs erobert die Städte, der Marder nervt Automobilisten. Noch immer polarisieren die Tiere, welche die Natur mit spitzen Krallen und einem kräftigen Gebiss ausgestattet hat. Doch bei der Wildkatze geht das Comeback ohne Nebengeräusche. In Mitteleuropa nehmen die Bestände vermutlich schon seit den 1930er-Jahren wieder langsam zu. Es hat Jahre gedauert, bis man dies überhaupt merkte.

Dies hängt nicht nur mit der äusserst diskreten Lebensweise dieses Raubtiers zusammen. Selbst wer das Glück hat, eine Wildkatze in der Natur zu beobachten, kann nie sicher sein, ob es tatsächlich eine ist. Es gibt Hauskatzen, deren Fell exakt gleich gefärbt und gemustert ist wie das ihre. Und streunende Hauskatzen treiben sich überall herum, selbst mitten im Wald. Auch die Fährte im Schnee oder der Kot liefern keine sicheren Hinweise. Der Schädelindex - Schädellänge geteilt durch Hirnvolumen - ist das einzige verlässliche morphologische Unterscheidungsmerkmal, denn Wildkatzen haben ein grösseres Gehirn. Doch dieser Wert lässt sich nur beim toten Tier bestimmen.

Geschützt in ganz Europa

Die Wildkatze "gehört (...) zu den schädlichsten Raubtieren unserer Heimat", und "die Jäger haben allen Grund, diesem unheimlichen Gast auf jede mögliche Art nachzustellen", lauten zwei Zitate aus der jagdlichen Literatur des 20. Jahrhunderts. Als sich endlich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass das derart gebrandmarkte Tier praktisch ausschliesslich Mäuse jagt und weder für andere Vertreter der Fauna noch für Kleinkinder eine Bedrohung ist, war es in Mitteleuropa nahezu ausgerottet. Als letztes grösseres Vorkommen blieb ein Gebiet, das von den Ardennen in Belgien über den Pfälzer Wald (D) und die Vogesen (F) bis in den französischen Jura reicht und von waldreichen Gebirgen geprägt ist. Heute ist die Wildkatze in allen Ländern Europas geschützt.

Ob sie in der Schweiz zeitweise ganz ausgerottet war oder ob auch in der schlimmsten Zeit im Jura noch ein paar Tiere ausharren konnten, ist nicht bekannt. In grenznahen Gebieten dürften aber ein paar Reliktbestände überlebt haben. Zum Beispiel im Raum "Le Glaserberg", einer einsamen Gegend nördlich des Flüsschens Lucelle (Lützel), das hier die Landesgrenze bildet. Von dort stammen vermutlich die Wildkatzen, die ab den 1970er-Jahren am Blauen, einem bewaldeten Hügelzug im Baselbieter Jura, aufkreuzten. In der Folge kam es hier wiederholt zu Beobachtungen durch Naturfreunde und Jäger, doch die sicheren Nachweise beschränkten sich auf zwei Tiere, die 1991 und 2005 überfahren wurden.

Der Wildtierbiologe Darius Weber, der in der Nähe des Blauen wohnt und hier die Gegend kennt, wollte Genaueres über die Präsenz des scheuen Tiers in diesem Gebiet wissen. Er begann eine Methode auszutüfteln, die es ermöglicht, Wildkatzenbestände in der freien Wildbahn zu erfassen. Sie basiert auf altem Volkswissen und modernster Technik.

Baldrian zieht Katzen an

Molekulargenetische Methoden erlauben es neuerdings, Wildkatzen auch bei lebenden Tieren von Hauskatzen zu unterscheiden: Ein Haar genügt für eine genetische Analyse. Doch wie kommt man in der freien Wildbahn zu Probematerial? Hier hilft ein alter Trick: Baldrian hat bekanntlich unwiderstehliche Wirkung, sowohl auf weibliche wie auf männliche Katzen, vor allem um die Zeit der Ranz, die in die Monate Dezember und Januar fällt. Die Tiere reiben sich dann mit Inbrunst an den Pflanzen.

Im Harzgebirge (D) haben sich Wildkatzenforscher diese Vorliebe als Erste zunutze gemacht. Sie besprühten ungehobelte Holzpfosten mit Baldriantinktur und steckten diese entlang von Wildwechseln in den Boden. Scheuern Katzen ihr Fell daran, bleiben stets ein paar Haare hängen (Abb. 1).

Haarige Bestandeserhebung im Baselbiet

Dieser Methode bediente sich Darius Weber bei einem Forschungsprojekt, das er in den Jahren 2006 und 2007 in Zusammenarbeit mit den beiden Genetikerinnen Barbara Hefti-Gautschi und Tabea Stoeckle sowie der lokalen Jägerschaft am Blauen durchführte. 136 Lockstöcke wurden im 66 Quadratkilometer grossen Untersuchungsgebiet entlang von Wildwechseln platziert und danach während 12 Monaten vierzehntäglich nach Haaren abgesucht. Unter dem Mikroskop erfolgte dann die erste Triage des Probematerials. Haare anderer Tiere wie Igel, Marder, Siebenschläfer und Füchse, die der Duft von Baldrian auch nicht kalt lässt, wurden ausgeschieden, aber auch solche, die aufgrund der Färbung mit Sicherheit als Hauskatzenhaare erkennbar waren. Bestand hingegen Wildkatzenverdacht, erfolgte eine genetische Analyse im Labor.

Diese zeigt nicht bloss, ob man es mit einer Wild- oder einer Hauskatze zu tun hat. Jedes Individuum hinterlässt seinen ureigenen genetischen Fingerabdruck. Die Laboranalyse ergibt somit zunächst einmal die Mindestzahl der im Untersuchungsgebiet anwesenden Tiere - nämlich alle, die sich individuell bestimmen liessen.

Mit Mathematik zum Ziel

Mit Hilfe statistischer Methoden sind aber auch recht genaue Schätzungen des ganzen Bestandes möglich, einschliesslich der Tiere, die nicht erfasst wurden. Sie basieren auf dem Umstand, dass einige Katzen bloss einmal, andere aber mehrmals an einem Pfosten Zeichen ihrer Präsenz hinterlassen haben. Die Rechnung ist kompliziert, das Prinzip aber einfach: Liegen mehrere Proben vor, die alle vom selben Tier stammen, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es das einzige ist. Im umgekehrten Extremfall, wenn mehrere Tiere nachgewiesen wurden, aber alle nur einmal, ist damit vermutlich noch nicht der ganze Bestand erfasst. In der Realität kann von einigen bloss ein Nachweis erbracht werden, von anderen deren zwei, von wieder anderen noch mehr. Mit den Teilsummen und der Zahl der insgesamt festgestellten Individuen lässt sich ein Schätzwert für die gesamte Population errechnen. Am Blauen ergab sich so ein Bestand von 25 bis 38 Individuen.

Nationales Überwachungsprogramm

Wildkatzen brauchen als Lebensraum ausgedehnte Wälder, die es im Mittelland nur noch vereinzelt gibt. In den Alpen sind andererseits die Winter zu hart: Wenn Schnee liegt, muss die Wildkatze das Mausen lassen, die Beute ist dann unzugänglich. Das potenzielle Verbreitungsgebiet in der Schweiz beschränkt sich somit auf den Jura (Abb. 2 und 3): Hier hat es genug Wald, und auch wenn viel Schnee liegt, finden sich immer ein paar apere Südhänge als Jagdgründe.

Auf diesen Teil der Schweiz konzentriert sich denn auch das langfristige nationale Überwachungsprogramm, das 2008 im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) gestartet wurde. Das Ziel dabei ist nicht, die Zahl der bei uns lebenden Wildkatzen zu erfassen. Es geht vielmehr um einen Indikatorwert zum Zustand der Population, der erkennen lässt, ob es mit der Art aufwärts oder abwärts geht oder ob sie sich einigermassen stabil hält. Dieser Wert entspricht dem Anteil der von der Wildkatze besiedelten Fläche am gesamten geeigneten Lebensraum. 150 jeweils 1 Quadratkilometer grosse, repräsentativ verteilte Probeflächen mit je 3 Lockstöcken, während 3 Monaten exponiert und alle 2 Wochen kontrolliert, reichen, um auf einen Wert mit der erwünschten Genauigkeit zu kommen.

Wildkatze breitet sich im Schweizer Jura aus

Im 18. und 19. Jahrhundert ist die Wildkatze infolge intensiver Bejagung stark dezimiert worden. Seit einiger Zeit breitet sie sich vom französischen Jura her wieder aus. Heute leben in der Schweiz schätzungsweise 450 bis 900 Wildkatzen auf einer Fläche von rund 600 Quadratkilometern. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die Wildkatzen europaweit unter Schutz gestellt worden waren und sich die Bestände deshalb erholt haben.

Wildkatzen sind keine verwilderte Hauskatzen

Obwohl die Haus- und Wildkatzen gemeinsame Vorfahren haben, verlief ihre Entwicklung getrennt. Die Wildkatze ist eine europäische Art. Die Hauskatze hingegen stammt von asiatisch-afrikanischen Wildkatzen ab und wurde als domestizierte Katze vom mittleren Osten nach Europa gebracht. Seitdem existieren die Haus- und Wildkatzen nebeneinander, wobei die scheue Wildkatze vom Menschen zurückgezogen lebt. Äusserlich unterscheiden sich Wildkatzen kaum von getigerten Hauskatzen.

Durch die Ausbreitung der Siedlungsfläche kommt die Wildkatze immer häufiger in Kontakt mit freilaufenden Hauskatzen. Dies kann zu Kreuzungen (Hybridisierung) zwischen den Wild- und Hauskatzen führen, wobei fortpflanzungsfähiger Nachwuchs (Hybriden) entsteht. In Teilen Europas, wie z.B. Ungarn und Schottland, ist die Wildkatze aufgrund der Hybridisierung mit Hauskatzen stark bedroht oder ausgestorben. Eine solche Gefährdung ist in der Schweiz nicht auszuschliessen; es wurden bereits Hybriden in der Wildpopulation nachgewiesen.