Tatsache ist, dass bei einer Vollbaumernte genauso wie bei der ehemals häufig praktizierten Streunutzung Nadelmasse aus einem Bestand entnommen wird. Unterschiede zwischen den beiden Nutzungsformen bestehen jedoch in der Art der Durchführung, der Entnahmemenge sowie in der Wiederkehrdauer eines solchen Streunutzungseingriffs.

Zeitfaktor bedeutend

Bei der "Streunutzung" aufgrund einer Vollbaumernte wird Nadelmasse nur im Zuge von Pflege- und Nutzungseingriffen (Stammzahlreduktion, Durchforstung, Endnutzung) entnommen. Zwischen den Eingriffen gelangt der natürliche Streufall auf den Boden, wo je nach Standorts- und Bestandessituation der Streuabbau einsetzt. Dagegen wird bei der klassischen Streunutzung die am Waldboden kumulierte und in Abbau befindliche Nadelstreu in regelmäßigen Zeitabständen aus dem Bestand entfernt.

Spielen also bei der "Streunutzung" durch Vollbaumernte das Durchforstungsintervall und die Durchforstungsstärke eine wichtige Rolle, so sind bei der klassischen Streunutzung das Streunutzungsintervall und das Bestandesalter zum Zeitpunkt des Beginns der Streunutzung von entscheidender Bedeutung. Der Faktor Zeit ist daher ausschlaggebend.

Methodischer Ansatz

Für drei Fichtenbestände unterschiedlicher Bonitätsstufen wurde ein Vergleich zwischen Vollbaumernte und klassischer Streunutzung durchgeführt. Auf Basis der in Tabelle 1 angeführten Bestandesmerkmale wurden Einzelbäume modelliert und deren Wachstum mit Hilfe des Waldwachstumssimulators PROGNAUS über die Dauer der gewählten Umtriebszeit simuliert. Die Abschätzung der baumindividuellen Nadelmasse erfolgte mit Hilfe der Biomassefunktionen von LEDERMANN & NEUMANN (2006).

Der jährliche Streufall wurde in zwei Schritten berechnet: Zuerst wird die Nadelmasse jenes Kronenbereichs abgeschätzt, der infolge des Konkurrenzdrucks abstirbt. Im zweiten Schritt wurde im verbliebenen Kronenbereich die Nadelmasse eines vollen Nadeljahrganges geschätzt und als zusätzlicher Streufall unterstellt.

Die seehöhenabhängige Anzahl der Nadeljahrgänge wurde von BURGER (1927) übernommen. Für den Streuabbau am Waldboden wurde nach ALBERS et al. (2004) eine von der ersten bis zur sechsten Altersklasse von 1,49 auf 2,03 % linear steigende monatliche Abbaurate unterstellt. Eine Abbaurate von 1,49 % bedeutet, dass die im Bestand liegende Fichtennadelstreu innerhalb eines Monats 1,49 % ihrer ursprünglichen Trockensubstanz verliert. Durch den Anstieg der Abbaurate über dem Alter wird den Ergebnissen von ALBERS et al. (2004) Rechnung getragen, wonach der Streuabbau in älteren Beständen etwas rascher abläuft als in jungen Beständen.

Behandlungskonzept und Nutzungsszenarien

Es wurden drei unterschiedliche Wuchsbedingungen (Bonitäten) untersucht, diese drei "Bestände" aber nach dem gleichen Pflegekonzept behandelt: Reduktion der Ausgangsstammzahl auf 2000 St./ha zu Beginn der Wachstumssimulation, dann folgten drei Durchforstungen bei Oberhöhen von 14, 18 und 22 m mit einer Absenkung der Stammzahlen auf 1200, 800 bzw. 500 St./ha. Sowohl Stammzahlreduktionen als auch Durchforstungen wurden als geometrische Eingriffe ohne Rücksicht auf einzelne Baummerkmale durchgeführt. Die Endnutzung erfolgte dann je nach "Bestand" bei einem Alter von 80, 100 und 120 Jahren.

Durch Aufsummieren der Nadelmasse aller genutzten Bäume (Stammzahlreduktion, Vor- und Endnutzung) wurde die innerhalb der Umtriebszeit durch Vollbaumernte aus dem Bestand entnommene Nadelmasse berechnet. Allerdings wurde dabei unterstellt, dass trotz Vollbaumernte bei einer Durchforstung 10 % und bei einer Endnutzung 15 % der Nadelmasse im Bestand verbleiben (KRAPFENBAUER, 2009).

Für die Simulation eines klassischen Streunutzungssystems wurden die Bäume in gleicher Weise wie bei der Vollbaumernte aus dem Bestand entnommen, die Nadelmasse dieser Bäume jedoch im Bestand belassen. Unter Berücksichtigung des Streuabbaus wurden dann für jeden Bestand 20 Streunutzungsszenarien berechnet, wobei ein Szenario durch das Nutzungsintervall und den Zeitpunkt des Beginns der Streunutzung definiert ist.

Streuentzug bei Vollbaumernte etwa ein Fünftel der Gesamtproduktion

Bei Anwendung eines heutzutage für Fichten-Reinbestände gebräuchlichen Behandlungsschemas variiert die durch Vollbaumernte entnommene Nadelmasse je nach Bonität zwischen 0,419 und 0,551 t/Jahr/ha (Tabelle 2). Dies macht in etwa 20-22 % der gesamten produzierten Nadelmasse aus. Bei einer klassischen Streunutzung läge dieser Anteil zwischen 17 und 74 %.

Dieser enorme Schwankungsbereich ist in erster Linie von der Dauer und der Intensität der Streunutzung bestimmt, das heißt wie lange vor dem Ende der Umtriebszeit damit begonnen und in welchem Nutzungsintervall sie betrieben wird. Auch die Bonität des Bestandes spielt dabei eine Rolle.

Aus praktischer Sicht ist davon auszugehen, dass mit der Streunutzung frühestens ab der späten Stangenholzphase begonnen werden konnte, da in den Beständen erst ab diesem Zeitpunkt ein einigermaßen begehbarer Stammraum vorhanden war.

Das Erreichen dieser Entwicklungsphase ist jedoch von der Wachstumsgeschwindigkeit abhängig, sodass sich je nach Bonität ein unterschiedliches Alter ergibt, ab dem realistischerweise mit der Streunutzung begonnen wurde. In Tabelle 2 sind diese Varianten durch Fettdruck gekennzeichnet.

Ein Vergleich dieser drei Varianten zeigt, dass die bei einem ein- bzw. zweijährlichen Nutzungsintervall entnommene Nadelmasse zwischen 44 und 51 % der gesamten produzierten Nadelmasse ausmacht, während dieser Anteil bei einem vier- bzw. sechsjährlichen Nutzungsintervall zwischen 32 und 39 % variiert (Abbildung 1).

Schlussfolgerung: Bei einer klassischen Streunutzung wird eineinhalb bis zweieinhalb Mal soviel Nadelmasse aus dem Bestand entnommen wie bei einer Vollbaumernte.

Fazit

Die Vollbaumernte ist eine moderne Form der Streunutzung, es wird jedoch deutlich weniger Nadelmasse aus einem Bestand entnommen als bei einem klassischen Streunutzungssystem. Dies bedeutet aber nicht, dass die Vollbaumernte auf jedem Standort zulässig ist. Dafür waren bzw. sind die Auswirkungen der Streunutzung viel zu folgenschwer.

Es muss daher für jeden einzelnen Standort geprüft werden, ob die Vollbaumernte auch im Hinblick auf die Standortsnachhaltigkeit angewendet werden kann. Dabei ist – wie von ENGLISCH & REITER (2009) im Rahmen der HOBI-Studie beschrieben – nach neuesten Erkenntnissen vorzugehen, und es sind nach Möglichkeit alle Aspekte zu berücksichtigen (Streuabbau, atmosphärische Einträge, Nachlieferung durch Gesteinsverwitterung, Nährstoffaustrag, etc.).

Der vorliegende Beitrag soll daher nicht als Plädoyer für eine generelle Vollbaumernte verstanden werden. Vielmehr soll er zeigen, dass heutzutage unter Einbeziehung neuer Methoden, Werkzeuge und Untersuchungsergebnisse (Waldwachstumssimulatoren, Biomassefunktionen, Modelle für den Streuabbau, Messung der atmosphärischen Einträge) umfassendere Analysen möglich sind, die Grundlage einer sachlichen Diskussion sein können.

Literatur

Die Literatur zu den Zitaten kann beim Verfasser bezogen werden.