Ende des 19. Jahrhunderts war die Waldfläche in der Schweiz im Vergleich zu heute nach einer langen Phase von grossflächigen Abholzungen deutlich kleiner. Gleichzeitig waren Rothirsch, Steinbock, Luchs, Wolf und Braunbär ganz ausgerottet, von Reh und Gämse gab es nur noch kleine Restpopulationen.

Wirksame Wald- und Jagdgesetze führten im 20. Jahrhundert zur Regeneration der Gebirgswälder und zu einer starken Zunahme der Wildtierbestände. Die wildlebenden Huftiere profitierten lange von der Abwesenheit der Grossraubtiere und von der Bewirtschaftung der Kulturlandschaft mit ihren nährstoffreichen Wiesen. So konnten sie grosse Bestände aufbauen.

In den 1970er-Jahren wurde der Luchs in der Schweiz wieder angesiedelt, und der Wolf wandert seit 1995 selbstständig von Italien her ein. Die Rückkehr von Grossraubtieren nach einer langen Phase der Verfolgung ist typisch für Europa und wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Es ist in den nächsten Jahren damit zu rechnen, dass der Wolf als sehr anpassungsfähige, sozial lebende Raubtierart immer häufiger Rudel bildet und somit der Einfluss von Wölfen auf die wildlebenden Huftiere zunimmt.

Wölfe haben als Beutegreifer direkte und indirekte Effekte auf ihre Beutetiere und deren Sozialstruktur.

Mögliche direkte Effekte

Wölfe fressen hauptsächlich wildlebende Huftiere, was den Wildbestand senkt. Je weniger Huftiere in einem Gebiet vorhanden sind, desto geringer fällt in der Regel der Verbiss an der Waldverjüngung aus (Abb. 2). Ist dieser direkte Effekt auf den Bestand der Huftiere im Ökosystem dominant, wird von einer Kaskadenwirkung von Wölfen über Huftiere auf die Waldverjüngung gesprochen.

Der direkte Einfluss des Wolfes hängt insbesondere von seinem Bestand, dem Beutespektrum und von den bevorzugten Huftierarten ab. Verschiedene Studien zeigen, dass der Wolf innerhalb seines grossen Verbreitungsgebiets anpassungsfähig ist und ein variables Beutespektrum hat.

Wölfe können lokal oder bei grossen Beständen einen direkten Effekt auf die wildlebenden Huftiere haben. Dieser dürfte sich vor allem in Kombination mit einer starken Bejagung des Schalenwilds durch den Menschen und mit harten Wintern bemerkbar machen.

Mögliche indirekte Effekte

Die indirekten Wirkungen der Grossraubtiere auf die Waldverjüngung werden funktionelle Effekte genannt. Dabei kann unterschieden werden zwischen Effekten infolge von verändertem Raum-Zeit-Verhalten der wildlebenden Huftiere, Änderungen im Äsungsverhalten des wildlebenden Huftiers und Stress und Ernährungszustand des wildlebenden Huftiers, welche die Nachwuchs- und Überlebensrate beeinflussen (Abb. 3).

  • Räumliches und/oder zeitliches Ausweichen in risikoärmere Lebensräume ist die am häufigsten beschriebene Verhaltensänderung (Abb. 4). Wildlebende Huftierarten haben ein Raum-Zeit-Verhalten, das ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Deckung und Sicherheit befriedigt. Ihr Aufenthaltsort wird durch das Angebot an Deckungsmöglichkeiten sowie die Verteilung und die zeitliche Verfügbarkeit der Nahrungskomponenten bestimmt.
  • Der Jagderfolg des Wolfes hängt vom Vegetationstyp, von der Topografie und von Hindernissen (z.B. Totholz) im Wildlebensraum ab. Wölfe jagen beispielsweise in offenem Gelände erfolgreicher als im dichten Wald. Zudem scheinen sie gegenüber kletternden Huftieren wie Gämsen und Steinböcken in felsigen Gebieten benachteiligt zu sein (Abb. 5). Mit zunehmendem Bestand und Verbreitung der Grossraubtiere ist es für Huftiere jedoch schwierig, den Raubtieren durch Anpassungen im Raum-Zeit-Verhalten auszuweichen.
  • Wolfspräsenz kann das Äsungsverhalten der Beutetiere beeinflussen. So berichten einige Studien über veränderte Nahrungszusammensetzung beim Rothirsch. Zum Beispiel hatten Hirsche im Westen der USA in Zeiten ohne Wolf vorwiegend Gräser gefressen, in Zeiten mit Wölfen hingegen deutlich mehr Gehölze verbissen. Wahrscheinlich werden bei Wolfspräsenz vermehrt deckungsreiche Habitate aufgesucht.
  • Einige Studien weisen darauf hin, dass sich bei höherem Prädationsdruck auf die Beutetieren eine geringere Nachwuchsrate im Folgejahr einstellt, was sich wiederum auf den Gesamtbestand auswirkt. Die Bedeutung solcher indirekten, numerischen Effekte auf die Waldverjüngung wurde bisher noch nicht untersucht.

Solange die Bestandsdichte des Wolfes klein bis mässig ist, dürfte sein Einfluss auf die Waldverjüngung hauptsächlich indirekt erfolgen – über die räumlich und zeitlich veränderte Lebensraumnutzung und Nahrungszusammensetzung der wildlebenden Huftiere. Da sich bei Wolfspräsenz wohl ein Teil der Rothirsche für die Nahrungsaufnahme nachts vermehrt im Wald oder in der Nähe von Siedlungen aufhalten wird, könnte es lokal sogar zu mehr Verbiss an der Waldverjüngung kommen. Auch ist zu erwarten, dass Waldbestände in steilem und insbesondere in felsigem Gelände vermehrt zu Einstandsgebieten für die Gämse werden.

Kombinierte Effekte von Räuber-Beute-Gemeinschaften

Wenn verschiedene Grossraubtiere wie Luchs und Wolf sowie der Mensch im selben Gebiet aktiv sind, führt dies zu komplexen Wechselwirkungen, da nicht alle Grossraubtiere die gleiche Jagdstrategie, dasselbe Beutespektrum und denselben Jagddruck ausüben.

Verfolgen Grossraubtiere komplementäre Strategien, so kann das Ausweichen gegenüber einem Prädator zu einem höheren Risiko durch einen anderen Prädator werden. Rehe, die dem Wolf ausweichen und mehr Deckung suchen, könnten zum Beispiel vermehrt dem Luchs zum Opfer fallen, weil Luchse als Lauerjäger Rehe erfolgreicher in deckungsreichen Habitaten erbeuten. In solchen Fällen erwartet man geringe Verhaltensanpassungen bei den Beutetieren.

Wichtig für des Verhalten der Huftiere ist auch die Stärke des Jagddrucks: Gemäss norwegischen Studien versuchen Elche und Rehe primär, Begegnungen mit Menschen zu vermeiden, da dieser mit der Jagd einen viel grösseren Einfluss auf deren Bestand hat als die Grossraubtiere. Dies deutet darauf hin, dass Jäger das Verhalten der Huftiere stärker beeinflussen als Wölfe. Erstaunlich ist das nicht, wenn man berücksichtigt, dass beispielsweise in der Lausitz (Ostdeutschland) die Wölfe nur für circa 10% der Gesamtmortalität von wildlebenden Huftieren verantwortlich waren. Umgekehrt meiden Wölfe in wenig besiedelten Gebieten die Nähe von menschlichen Siedlungen, was den Huftieren die Möglichkeit gibt, den Prädationsdruck des Wolfes durch die Nutzung von siedlungsnahen Gebieten zu reduzieren.

Jäger dürften in der Schweiz mindestens während der Jagdsaison einen deutlich stärkeren direkten und indirekten Einfluss auf die wildlebenden Huftiere haben als Wölfe. Mit weniger Verbiss an der Waldverjüngung ist dort zu rechnen, wo die Jagd den jährlichen Zuwachs der wildlebenden Huftiere bereits heute abschöpft und die Grossraubtiere mehrheitlich weibliche und junge Tiere erlegen.

Fazit

Der Wolf kann Auswirkungen auf seine Beutetiere und deren räumliche und zeitliche Nutzung des Lebensraums haben und so auch die Waldverjüngung beeinflussen. Die Gleichung "Wolf = weniger Wild = weniger Verbiss" ist jedoch zu einfach und wird den komplexen Wechselwirkungen zwischen Raubtier, Pflanzenfresser und Vegetation nicht gerecht. Bei starker Wolfspräsenz erwarten wir grossräumig weniger Verbiss, weil sich dann ein numerischer Effekt des Wolfes auf seine Beutetiere einstellen sollte. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich der optimale Entscheid zwischen Räubervermeidung und Nahrungsaufnahme für die Huftierarten räumlich unterscheidet und von der Jagdstrategie des Räubers abhängig ist. Dadurch variiert der Verbiss kleinräumig, an manchen Orten mehr, an anderen weniger. Je nach Situation kann dies die Waldverjüngung hemmen oder fördern.

 

(TR)