Die Baumkronen des Waldes sind uns Menschen grösstenteils unzugänglich. Deshalb können wir uns das Leben im Kronenraum nur schwer vorstellen. Es ist aber wichtig, dass wir den Blick im Wald auch auf die Bedürfnisse der Tiere in den Baumkronen lenken, und zwar nicht nur auf diejenigen der flugfähigen Vögel oder Fledermäuse. Denn dort liegt auch das Reich der Baummarder (Abb. 1).

Der Kronenraum als Jagdgebiet

Im Kronenraum des Waldes schwingt sich der Baummarder auf der Jagd nach Eichhörnchen und Vögeln recht akrobatisch von Ast zu Ast. In alten Eichhörnchenkobeln und Höhlen, meist in über 10 Metern Höhe, finden die Tiere gute Verstecke und ziehen dort ihre Jungen auf. Weit über dem Boden sind diese für fast jeden Feind – zumindest für grössere Raubtiere und Menschen – unerreichbar. Auch Greifvögel finden nur schwer den Zugang zu den Höhlen. Und wenn doch einmal Gefahr droht, werden die Baummarderkinder – wie dies bei den Marderartigen nicht selten vorkommt – von der Mutter in ein anderes Versteck gebracht. Die Mutter trägt eines ihrer Jungen nach dem anderen mit Nackenbiss davon, wobei das Jungtier in eine besondere Tragstarre verfällt.

Dieses Verhalten vergrössert zwar die Überlebenschancen der Jungen, aber es kann auch zu Problemen führen. Häufige Störungen in der Nähe des Aufzuchtsortes zum Beispiel durch Menschen oder Hunde können – auch wenn sie keine echte Bedrohung für die Jungen bedeuten - die Mutter zu einem solchen Umzug veranlassen. Das kostet viel Energie, und wenn die Auswahl an geeigneten Standorten in unmittelbarer Umgebung beschränkt ist, kann der Umzug zur Aufzucht an weniger geeigneten Stellen führen.

Forschungsergebnisse der letzten Jahre lassen einige spannende Fakten über das Baummarderleben erkennen. Im polnischen Urwald Bialowieza, wo noch das ganze Artenspektrum der Säugetierfauna mit Wolf und Bär zu Hause ist, untersuchten Jacek Goszczynski und seine Kollegen durch Verfolgen von Schneespuren und mit Hilfe weiterer Methoden die Aktivitäten der Baummarder. Dabei stellten sie fest, dass der Ort, wo ein Tier in den Kronenraum aufgestiegen war, bis 40 m entfernt war vom Ort, wo es wieder auf den Boden herunter kam. Da die Tiere im Kronenraum jeweils grössere Jagdzüge unternehmen und deren Anfangs- und Endpunkt kaum exakt an den Grenzen des benutzen Jagdraumes liegen, dürfte dieser oft darüber hinausgehen und nicht selten etwa 1500 bis 2000 Quadratmeter umfassen.

Die Mobilität der Baummarder, welche solche Jagdzüge im Kronenraum ebenso wie die Fortbewegung am Boden einschliesst, ist beachtlich. Ein Beispiel, in welchem die genannten Forscher einen nächtlichen Streifzug des Baummarders durch die Spuren im Schnee verfolgen konnten, beschreiben sie recht genau: Auf einem 1,5 km langen Weg war der Baummarder 10 mal auf einen Baum geklettert, 3 mal war er im Kronenraum herumgetollt, 6 mal hatte er eine Strasse in den zusammenhängenden Baumkronen und 2 mal am Boden überquert und nur einmal führte sein Weg an den Waldrand. Dieses Beispiel zeigt, welch grosse Strecken ein Baummarder in einer einzigen Nacht zurücklegen kann. Da wundert es nicht, dass ein Individuum ein sehr grosses Heimgebiet benötigt. Fachleute schätzen, dass ein Baummarder je nach Lebensraumqualität und Nahrungsangebot ein Waldstück von mehreren Quadratkilometern für sich beansprucht. Da sich die Heimgebiete der einzelnen Tiere nur sehr beschränkt überschneiden, benötigt eine überlebensfähige Population mit vielen Individuen, die sich miteinander paaren können, ein Vielfaches davon.

Andrzej Zalewski, ein anderer Forscher, legte sein Augenmerk im Nationalpark Bialowieza stark auf die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Baummardern. Dies interessierte die Forscher umso mehr, als schon in früheren Untersuchungen immer wieder vermutet und zum Teil auch festgestellt wurde, dass sich das Beutespektrum der Weibchen von demjenigen der Männchen etwas unterschied. Man nahm an, dass dadurch die Nahrungskonkurrenz zwischen den beiden Geschlechtern etwas verringert wird. Es schien naheliegend, dass die im Durchschnitt etwa 25 % grösseren Männchen auch etwas grössere Beute schlagen als die kleineren Weibchen. Inzwischen ist es dank genetischer Methoden möglich, bei Kotproben festzustellen, von welchem Geschlecht diese stammen. Das Nahrungsspektrum der Weibchen und Männchen kann also heute besser unterschieden werden.

Nun fanden die polnischen Forscher Erstaunliches heraus: Die Weibchen hatten mehr Vögel und auch mehr der relativ grossen Eichhörnchen gefressen als die Männchen. Dies lässt sich wie folgt erklären: Die Verfolgung der Eichhörnchen und Vögel im Kronenraum ist nicht einfach. Die Eichhörnchen können dank dem Einsatz ihres Schwanzes von Ast zu Ast weite Sprünge machen, ja fast fliegen. Für einen Marder ist die Eichhörnchen- und Vogeljagd nur möglich, wenn er ihnen behende von Ast zu Ast folgen kann. Müsste er bei der Verfolgung jedes Mal den Stamm seines Baumes hinunter und den Nachbarstamm wieder hinauf klettern, wäre das verfolgte Eichhörnchen in dieser Zeit längst verschwunden. Doch im Kronenraum sind viele Äste dünn und tragen keine schweren Tiere. Da ist das etwas leichtere Weibchen gegenüber seinem Partner im Vorteil: die Marderfähe ist die bessere Jägerin im Kronenraum. So betrachtet erstaunt es kaum mehr, dass sich die beobachteten Weibchen öfter im Kronenraum aufhielten als die männlichen Baummarder.

Der baummarderfreundliche Wald

Die vorgestellten Forschungsergebnisse können Konsequenzen haben für Schutz und Förderung des Baummarders. In einem Urwald wie demjenigen von Bialowieza gibt es wohl – so stelle ich mir das vor – viele alte Baumbestände, in welchen die Kronen der dicken Bäume ineinandergewachsen sind. Da dürfte es kein Problem sein für ein Baummarderweibchen, in einem grösseren Gebiet mit Kronenschluss von Ast zu Ast den Beutetieren zu folgen.

Wer aber mit "Baummarderaugen" durch unsere Wälder läuft und den Blick in die Höhe richtet, wird nicht überall ausreichend dichte Kronendächer (Abb. 3) finden, schon gar nicht auf grösseren Flächen. Manch eine grössere Eiche (oder ein anderer besonders wertvoller Baum) wurde freigestellt, so dass sie ihre Krone unbehindert durch Nachbarbäume entfalten kann. Dies kann viele Vorteile in anderen Bereichen haben und sich positiv auf andere Artengruppen auswirken – für den Baummarder aber stellt es einen grossen Nachteil dar. Günstig wäre es hingegen für den Baummarder, wenn in nicht allzu grossen Abständen (vielleicht höchstens einige hundert Meter) Inseln grösserer zusammenhängender Kronenräume mit stark ineinander greifendem Astwerk erhalten blieben (Abb. 4). Solche Kronenschlussräume lassen sich selbstverständlich nicht von heute auf morgen realisieren.

Die Baumartenzusammensetzung scheint dem Baummarder weniger wichtig zu sein, wenn ausreichend Beutetiere im Kronenraum vorkommen, wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben. Wenn nebst Laubbäumen auch einige alte Weisstannen oder andere Nadelbäume vorhanden sind, bietet dies im Winter sogar einen Vorteil für die Baummarder. Bei Sturm und Schnee ist der Kronenraum ein recht garstiger Lebensraum. Vor dem Wind, der ohne Hindernis durch laubfreie Äste fegt, und vor dem Schneesturm gibt es am ehesten Schutz im immergrünen Nadelbaum.

Obwohl der Baummarder mit der Kälte besser zurechtkommt als sein mehr auf Wärme ausgerichteter Vetter, der Steinmarder, meidet auch er die allzu harte Witterung. So hält er sich im Winter öfter am Boden auf. Gerne sucht er dort unter dicken, am Boden liegenden Baumstämmen Schutz. Auch hier wieder finden wir einen Ansatzpunkt, um dem Baummarder das Leben zu erleichtern: Wenn der Förster da und dort einen dicken Stamm am Boden liegen lässt, bietet er dem Baummarder einen geschützten Ruheplatz im Winter (Abb. 5). Dieser sollte allerdings in etlicher Entfernung von den Wegen und damit von Spaziergängern und Hunden liegen.

Schwierige Situation im Mittelland

Der Baummarder wird oft mit seinem viel häufigeren Verwandten, dem Steinmarder, verwechselt oder von diesem gar nicht unterschieden. Viele Menschen denken, es gäbe ja mehr als genug Marder, denn sie haben vielleicht schlechte Erfahrungen mit dem Kabel zerbeissenden "Automarder" oder mit vom Marder zerstörten Isolationen in ihrem Estrich gemacht. Beide Schäden gehen ausschliesslich auf das Konto des Steinmarders, der am weissen "Halslatz" erkennbar ist (Abb. 6). Dem vermutlich viel selteneren Baummarder mit dem meist gelblichen "Latz" (Abb. 2) hingegen begegnet der Mensch kaum, denn er ist fast ausschliesslich nachts im geschlossenen Wald unterwegs.

Woher kommt wohl dieser Unterschied in der Häufigkeit zwischen den beiden sonst so ähnlichen Marderarten? Tatsächlich benehmen sich Stein- und Baummarder völlig unterschiedlich gegenüber dem Menschen. Der Steinmarder hat keine Probleme mit der Anwesenheit des Menschen und mit menschgemachten Einrichtungen. Hingegen haben Forschungen gezeigt, dass der Baummarder den Menschen und seine Einrichtungen meidet. Wenn immer möglich hält er Distanz zu menschlichen Behausungen und lebt fast ausschliesslich in zusammenhängenden Wäldern. Selbst der Schutz des Kronenraumes scheint ihm nicht zu genügen, wenn eine Strasse in der Nähe liegt. Strassen und Bahnen überquert der Baummarder am liebsten im Kronenraum, was allerdings nur möglich ist, wenn die Kronen der einen Strassenseite diejenigen der anderen berühren.

Dieser Kronenschluss über Strassen wird im Mittelland immer seltener, denn viele Strassen wurden in den letzten Jahrzehnten breiter und in den Randbereichen werden oft Bäume – auch aus Sicherheitsgründen – gefällt oder überhängende Äste zurückgeschnitten. Da muss selbst der beste Kronenspringer unter den Baummardern auf den Boden ausweichen – oft mit den fatalen Unfallfolgen, wie die Fallwildstatistiken belegen.

Während also der Baummarder in den grossen zusammenhängenden Wäldern lebt, findet sich der Steinmarder auch in Siedlungen, ja sogar mitten in Städten wie Zürich, bestens zurecht. Daher sind die Steinmarderbestände vor allem im Siedlungsraum gross, während die Baummarderbestände mancherorts in Europa abnehmen und sogar gefährdet sind. Dass der Baummarder im Schweizer Mittelland noch nicht auf der Roten Liste steht, hat möglicherweise mehr mit unseren mangelnden Kenntnissen über die Entwicklung seiner Populationen in den vergangenen Jahrzehnten zu tun als mit "gesunden" Beständen. Zum Glück befasst man sich zur Zeit intensiv damit, mithilfe von automatischen Fotokameras genauer zu erfassen, wie viele Baummarder in unseren Wäldern wirklich noch leben und ob bzw. wie stark diese Art gefährdet ist.

Besonders problematisch für den Baummarder ist die Zerstückelung (Fragmentierung) der Wälder, die insbesondere im Schweizer Mittelland stark ist. Da er offene Flächen kaum überquert, sind ausgeräumte Landschaften für ihn meist unpassierbar. Erstaunlicherweise fand ich in Baumhecken, Ufergehölzen und Obstgärten, welche eine baumbestandene Route durch offene Landwirtschaftsgebiete von Wald zu Wald bilden, immer wieder Baummarderspuren, obwohl andernorts entsprechende Hecken und Obstgärten nicht vom Baummarder begangen werden.

Solche Erkenntnisse helfen bei der Ufer- und Heckenpflege, bei der Planung von Wildtierkorridoren und bei der Beurteilung von Bauprojekten, welche durch Wälder führen: Bei geschickter Gestaltung kann dem Baummarder eine waldähnliche Route durch das für ihn problematische offene Gebiet gelegt werden. Wichtig sind auch hier hohe Bäume, möglichst mehrere nah beieinander gruppiert. Beliebt sind auch Obstbäume, denn der Baummarder frisst gerne Obst. Allerdings kann ein viel begangener Feldweg entlang einer solchen Baummarderroute deren Wirkung im Keim ersticken, weil der Baummarder menschliche Nähe meidet.

Die Ansprüche des Menschen an den Wald sind äusserst vielfältig. Zudem leben viele verschiedene Tier- und Pflanzenarten mit ganz unterschiedlichen Lebensraumansprüchen im Wald. Da ist es nicht immer einfach, alle Bedürfnisse abzudecken. Doch der Baummarder benötigt keine flächendeckenden Aufwertungsmassnahmen, denn dank seiner grossen Mobilität kann er in einer Nacht mehrere verstreut in einem Wald verteilte Jagdgebiete aufsuchen. Wenn wir uns bemühen, den Wald auch mit "Baummarderaugen" zu sehen und den Blick vermehrt auf den Kronenraum zu richten, finden wir bestimmt Platz, um die benötigten Baummarder-Jagdgebiete ebenso zur Verfügung zu stellen bzw. aufzuwerten, wie die Lebensräume anderer Arten.

Literatur

  • Andrzej Zalewski, 2007: Does size dimorphism reduce competition between sexes? The diet of male and female pine martens at local and wider geographical scales. Acta Theriologica 52 (3): 237-250
  • Jacek Goszczynski, Maciej Posluszny, Malgorzata Pilot und Barbara Gralak, 2007:Patterns of winter locomotion and foraging in two sympatric marten species: Martes martes and Martes foina. Can. J. Zool. 85: 239-249