Der Schutz vor Lawinenanrissen ist einer der wichtigsten Ansprüche, den der Mensch heute an den Gebirgswald stellt. Der Gebirgswald ist heute flächenmässig der wichtigsten Beitrag zum Lawinenschutz in der Schweiz. Die Schutzfunktion des Waldes beruht insbesondere darauf, dass er das Anbrechen von Lawinen verhindert (Abb. 2). Dies zeigte sich in den kritischen Lawinensituationen des Winters 1999, als trotz Rekordschneehöhen praktisch keine Anbrüche im bewaldeten Gebiet beobachtet wurden.

Wirkung des Waldes als Lawinenschutz

Die stabilisierende Wirkung des Waldes auf die Schneedecke und damit gegen Lawinenanbrüche beruht auf verschiedenen Eigenarten des Waldes, die es im Freiland nicht gibt. Die wichtigsten sind:

  • Schneeinterzeption
    Während dem Schneefall wird ein Teil des Schnees in den Baumkronen aufgefangen. Der kleinere Teil dieses Schnees verdunstet, der grössere Teil fällt nachträglich als Schneeklumpen oder Schmelzwasser zu Boden. Dadurch wird die Schneedecke im Wald weniger mächtig und stärker strukturiert als im Freiland.

  • Strahlungshaushalt
    In einem dichten wintergrünen Wald ist das Mikroklima ausgeglichener als im Freiland. Die Erwärmung der Schneedecke während des Tages und die Abkühlung in der Nacht sind kleiner. Die Wahrscheinlichkeit für die Bildung von Oberflächenreif, der im Freiland die Basis zur Bildung gefährlicher Schwachschichten darstellen kann, ist reduziert.

  • Wind
    Die Windeinwirkung und damit mögliche Schneeverfrachtungen sind in einem geschlossenen Bestand weniger problematisch. In Waldlichtungen können jedoch grössere Schneemengen abgelagert werden als im Freiland.

  • Stützwirkung der Stämme
    Die Stämme stützen die Schneedecke ab und stabilisieren sie. Diese Stützwirkung darf jedoch nicht überschätzt werden. Umgestürzte Wurzelteller und liegende Stämme können die Schneedecke auch abstützen. Untersuchungen in den Vivian-Sturmflächen im Februar 1999 zeigten, dass an jenen Stellen, wo das geworfene Holz nicht geräumt wurde, keine Lawinen angebrochen sind. Die Frage stellt sich jedoch, wie sich diese Wirkung in einem späteren Stadium der Holzzersetzung verändert. Weiter ist zu beachten, dass niedrige, völlig überschneite Bäume die Lawinenbildung sogar fördern können.

Anforderung an den Schutzwald

Wie stark diese verschiedenen Eigenarten des Waldes im Einzelnen zur Stabilisierung der Schneedecke beitragen und wo die Grenzen der Schutzwirksamkeit bei verschiedenen Witterungsbedingungen liegt, ist auch heute noch nicht vollständig bekannt. Als Schlüsselgrössen gelten Kronendeckungsgrad, Stammzahl pro Hektare und mittlere Lückenbreite. Bei einem Kronendeckungsgrad von 50% und einer Hangneigung von 35° wird bis zu einer Lückenbreite von 15m die Lawinenauslösung als sehr unwahrscheinlich angesehen. Das grösste Problem bei der Herleitung dieser Faustregeln ist, dass die Waldlawinendaten nur während fünf Wintern (1985–1990) erhoben wurden. Um diese Regeln für extremere Witterungsbedingungen anzupassen bzw. zu überprüfen, fehlen die notwendigen Daten.

GUBLER und RYCHETNIK (1991) untersuchten mit lawinendynamischen Berechnungen einen weiteren wichtigen Parameter, die Lückenlänge in der Falllinie. Je länger und steiler eine Lücke ist, desto grösser wird die Intensität einer anbrechenden Lawine. Nach ihren Berechnungen sollte bei einer Hangneigung von 35° die Lückenlänge kleiner als etwa 50m sein und bei 45° kleiner als etwa 30m. Bei Lückenlängen von mehr als 150m muss mit einer Zerstörung des untenliegenden Waldes gerechnet werden (Abb. 3). Um die Wahrscheinlichkeit eines grossen Lawinenabganges in einer Lücke klein zu halten, wird in Kanada vorgeschlagen, die Öffnungsfläche eines Kahlschlages auf 1ha zu beschränken.

Das Anforderungsprofil an den Wald hängt stark vom erwarteten Schutzziel und dem bestehenden Schadenpotential ab. Kleine Schneerutsche, die zum Beispiel Personen auf einer Skipiste zu gefährden vermögen, können, wenn überhaupt, nur von sehr dichten (Kronendeckungsgrad >50%), wintergrünen Beständen verhindert werden. Für die Verhinderung von grossflächigen Lawinenanbrüchen können an einen Bestand etwas weniger strenge Anforderungen gestellt werden. Aufgelöste Bestände, wie sie oft an der oberen Waldgrenze vorkommen, müssen immer kritisch beurteilt werden.

Bremswirkung des Waldes

Die Bremswirkung des Waldes bei Lawinen, die hoch über der Waldgrenze anbrechen, ist im allgemeinen sehr beschränkt. Im Lawinenwinter 1999 wurden dadurch rund 160’000m3 Holz geworfen, in etwa die gleiche Menge wie im Lawinenwinter 1951. Erfahrungsgemäss können nur knapp oberhalb der Waldgrenze angebrochene Lawinen gestoppt werden. Die Zerstörungskraft hängt einerseits von der Geschwindigkeit ab, die mit zunehmender Laufdistanz grösser wird, und andererseits von der Wirkungshöhe.

Berechnungen zeigen, dass Lawinengeschwindigkeiten von 20m/s bei einer Fliesshöhe von 3m nicht ausreichen, um Bäume mit einem Stammdurchmesser von mehr als 30cm zu brechen (sofern keine Äste erfasst werden und der Baum genügend standfest ist). Ist die Fliesshöhe einer Lawine so gross, dass die Stämme und die Äste erfasst werden, tritt infolge der grösseren Angriffsfläche meist eine totale Zerstörung auf.

Eine häufige Beobachtung ist, dass eine Lawine vorerst einen Bestand ohne ihn zu schädigen durchfliessen kann, dann aber plötzlich Bäume wirft. Dies kann z.B. durch eine Geschwindigkeitszunahme infolge einer Verengung der Lawinenbahn oder durch ein Aufsteilen des Geländes bedingt sein. Mitgeführtes Holz kann die Gefährlichkeit einer Lawine gegenüber Bauten aller Art (Gebäude, Brücken, Masten) stark erhöhen. Lawinenholz kann weiter zu Verklausungen führen. Deshalb ist nicht jeder Baum in einem potentiellen Lawinenzug von vornherein ein Faktor der Sicherheit: Eine Lawine verliert zwar durch das Brechen von Bäumen Energie und wird abgebremst, einen Teil der Energie erhält sie aber durch die stürzenden Bäume wieder zurück.

Berücksichtigung des Waldes in Lawinengefahrenkarten

Nach den Richtlinien zur Berücksichtigung der Lawinengefahr bei raumwirksamen Tätigkeiten ist Wald bei der Beurteilung der Lawinengefahr angemessen zu berücksichtigen. In der Praxis gibt es jedoch keine klare Anleitung, wie Wald bei der Erarbeitung von Lawinengefahrenkarten zu behandeln ist. Meist wird ein pragmatisches Vorgehen gewählt, in dem Faktoren wie die Dichte eines Bestandes (Stammzahl pro Hektare und der Kronendeckungsgrad), die Höhe und das Alter der Bäume, vorhandene Lücken, die Hangneigung und die Struktur der oberen Waldgrenze gutachtlich beurteilt werden. Die wichtigsten Szenarien sind die folgenden:

  • Dichter Wald
    In einem dichten, geschlossenen Wald, der das gesamte Anbruchgebiet umfasst, werden grossflächige Lawinenanbrüche ausgeschlossen. Ein intakter Schutzwald wird als eine zuverlässige Massnahme betrachtet und wird dementsprechend beim Erarbeiten von Lawinengefahrenkarten berücksichtigt. Die langfristige Entwicklung (Zwangsnutzung, Sturmschäden, Käfer) sowie die Struktur eines Waldes werden meist nur am Rande berücksichtigt, das heisst, man geht davon aus, dass die Schutzwirkung mit waldbaulichen und falls notwendig technischen Massnahmen erhalten werden kann.
     
  • Dichter Wald mit kleinen Lücken
    Sind in einem geschlossenen Bestand Lücken (mindestens 15m) vorhanden, muss mit dem Anbruch von kleinen Lawinen gerechnet werden. Die Bremswirkung der Bäume wird dabei berücksichtigt. Heikel sind Situationen, wo sich die Lücken im Bereich der oberen Waldgrenze befinden oder wo die Abmessungen der Lücken, insbesondere in der Falllinie, nahe der kritischen Sollwerte liegen.
     
  • Anrissgebiete oberhalb dichtem Wald
    Befinden sich oberhalb von dichtem Wald oder im Bereich der oberen Waldgrenze grössere Anrissgebiete, wird die bremsende Wirkung des Waldes meist ganz vernachlässigt. Für ein erstes Ereignis kann eine bremsende Wirkung eventuell bestehen, später losgehende Lawinen können jedoch ungebremst abstürzen. Befindet sich dichter Wald im Auslaufgebiet der Lawine, kann eine gewisse Bremswirkung erwartet und berücksichtigt werden.
     
  • Anrissgebiete und Sturzbahn zwischen dichtem Wald (Lawinenschneise)
    Oft ist ein grosses potentielles Anrissgebiet an flacheren Stellen oder auf Gelanderücken mit dichtem Wald bestockt. Da auf den bestockten Flächen ein Anbruch weniger wahrscheinlich ist, kann mit der kleineren unbestockten Anbruchfläche gerechnet werden. In der Sturzbahn kann Wald die seitliche Ausbreitung reduzieren.
     

Eine weitere sehr wichtige Funktion des Waldes beim Erarbeiten von Lawinengefahrenkarten ist seine Zeigerfunktion. Die Verteilung der Baumarten und insbesondere das Auftreten von Sträuchern und buschartig ausgebildeten Bäumen kann Hinweise auf die vergangene Lawinenaktivität geben. Ein Wald mit einer Lawinenschneise mit unterschiedlich alten Bäumen kann auf die mögliche Grösse und Häufigkeit von Lawinen hindeuten. Diese Zeigerfunktion trägt zwar nicht direkt zu einem erhöhten Schutz bei, ermöglicht aber im Vergleich zum unbestockten Gelände bedeutend verlässlichere Beurteilungen extremer Lawinen. Lawinengefahrenkarten werden auf Ereignisse mit einer Wiederkehrdauer von maximal 300 Jahren ausgelegt.

Folgerungen

Dichter geschlossener Wald, der das gesamte Anbruchgebiet abdeckt, stellt einen sehr guten Lawinenschutz dar. Weist ein Bestand Lücken auf oder ist er aufgelöst, so können Lawinenanbrüche nicht mehr ausgeschlossen werden, die Schutzwirkung ist reduziert. Brechen Lawinen schliesslich oberhalb eines Waldes an, wird dieser zerstört. Es besteht keine Schutzwirkung. Durch die mitgerissenen Stämme kann die Gefährlichkeit einer Lawine sogar noch erhöht werden.

Die Eigenschaften des Waldes, die zur Verhinderung von Lawinen führen, sind weitgehend bekannt. Bis heute ist jedoch unklar, wie wichtig die einzelnen schutzwirksamen Elemente sind. Insbesondere sind die Kenntnisse über die Bremswirkung des Waldes bei Lawinenniedergängen und die Abhängigkeit der Schneedeckenentwicklung von Waldstruktur nur beschränkt. Die heute gebräuchlichen Faustregeln, um die Schutzwirkung eines Waldes zu beurteilen, beruhen weitgehend auf Waldlawinendaten der Jahre 1985 bis 1990. Um diese Regeln für extremere Witterungsbedingungen anzupassen bzw. zu überprüfen, fehlen die notwendigen Daten.

Im Februar 1999 zeigten die in den nicht geräumten Vivian-Sturmflächen liegen gelassenen Stämme und Wurzelteller eine gute Wirksamkeit. Die Frage stellt sich jedoch, wie sich diese positive Wirkung in einem späteren Stadium der Holzzersetzung verändert. Da Wald vielerorts Siedlungen und Verkehrsachsen vor Lawinenniedergängen schützt und die Schutzwirkung dementsprechend in Lawinengefahrenkarten berücksichtigt wurde, ist die langfristige Erhaltung dieser Schutzleistung mit waldbaulichen und falls notwendig technischen Massnahmen von grosser Bedeutung.