Barrierefreie Erholung im Wald – Anspruch und Wirklichkeit in Baden-Württemberg

Dass ein Waldbesuch gut für die Menschenist, hat sich herumgesprochen. Gesetze regeln den Zugang zum "freien" Betreten und erlauben den Naturgenuss. Menschen mit Behinderungen sind von den entsprechenden positiven Einflüssen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden an vielen Orten jedoch weitgehend ausgeschlossen. Ein laufendes Forschungsvorhaben der Abteilung Wald und Gesellschaft fragt nach den Gründen.

Warum "Barrierefreiheit" im Wald?

2013 lebten in Deutschland etwa zehn Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Von diesen waren wiederum drei Viertel als schwerbehindert eingestuft. Noch größer ist die Gruppe der Menschen, die in ihrem Alltag immer wieder mit besonderen Herausforderungen hinsichtlich des Zugangs zu Infrastruktur oder Informationen konfrontiert werden. Schätzungen zufolge erhöht sich die Zahl der Betroffenen sogar auf rund ein Drittel der Bevölkerung, wenn alle Menschen, die in ihren Handlungsmöglichkeiten beeinträchtigt sind (beispielsweise ältere Menschen) sowie deren Begleitpersonen berücksichtigt werden.

Statistiken belegen auch, dass Menschen mit Behinderung weniger an physischen Aktivitäten beteiligt und häufiger von Krankheiten betroffen sind, als ihre Mitmenschen ohne Behinderung. Fehlende physische Aktivität kann aber als Langzeitkonsequenz schwerwiegende sekundäre gesundheitliche Probleme mit sich bringen. Neben der Verwirklichung einer gleichberechtigten Teilhabe ist es daher auch mit Blick auf die Gesundheitsvorsorge wichtig, die Faktoren zu verstehen, die die Teilnahme von Menschen mit Behinderung an Aktivitäten in der Natur beeinflussen (s. Abb. 1). Damit wird auch ein bestehender gesetzlicher Auftrag umgesetzt. Spätestens seit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland im Jahr 2009, gilt es, "[…] Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen […]".

Vergleicht man dies mit der Lebenspraxis in Deutschland, so wird schnell deutlich, dass es weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gibt, die nach wie vor viele Barrieren aufweisen. Die Erholung im Wald zählt dazu, so die ersten Ergebnisse einer Studie, die die Autoren in Baden-Württemberg durchgeführt haben. Dabei wurden sowohl die Erfahrungen von Betroffenen wie auch jene der Unteren Forstbehörden im Land berücksichtigt.

Was bedeutet"Barrierefreiheit" im Wald?

Abb. 2: Barrierefreier Waldlehrpfad "Sinneswandel" am Haus des Waldes in Stuttgart. Der Waldlehrpfad bietet sowohl mobilitätseingeschränkten als auch blinden und geistig beeinträchtigten Menschen eine hohe Erfahrungs- bzw. Erlebnisqualität. Informationstafeln bieten Zusammenfassungen in leichter Sprache, die Texte können auch von einer App vorgelesen werden. Ein Blindenleitsystem markiert die Wege und Angebote, der Großteil der Exponate ist ertastbar.

Eine einheitliche Definition von "Barrierefreiheit" im Kontext von Wald- und Naturerholung gibt es nicht. Mit dem Begriff "barrierefrei" können sowohl spezifische Zielgruppen angesprochen, als auch ein "universeller" Ansatz zur Erholung im Wald verfolgt werden. Letzterer versucht möglichst vielen Menschen eine Teilhabe mit möglichst wenigen Einschränkungen zu ermöglichen. Ein Beispiel für eine spezifische Zielgruppe wäre der "Rollstuhlwanderweg", der auf mobilitätseingeschränkte Personen ausgerichtet ist, während ein "barrierefreier Naturlehrpfad" im Idealfall ein viel breiteres Spektrum an Nutzerinnen und Nutzer anspricht (s. Abb. 2). "Barrierefreiheit" steht in der Praxis folglich im Kontext ganz unterschiedlicher Zielvorstellungen und -gruppen.

Welche Barrieren existieren bei der Erholungsnutzung?

Im Rahmen einer umfangreichen Literaturrecherche zu Beginn des Forschungsvorhabens konnten drei Barrieretypen identifiziert werden: physische Barrieren, informationsbezogene Barrieren und emotionale beziehungsweise mentale Barrieren. Alle drei Formen von Barrieren können dabei an verschiedenen Punkten der sogenannten Zugänglichkeitskette auftreten (s. Abb. 3).

Physische Barrieren

Physische Barrieren stellen bei der Erholung im Wald die offensichtlichste Form von Barrieren dar und werden insbesondere im Kontext der Wegebeschaffenheit gesehen (zum Beispiel starke Steigungen, Wurzeln, Belag). Darüber hinaus können physische Barrieren aber auch andere Kettenglieder wie zum Beispiel die Erreichbarkeit betreffen (unter anderem Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, Art der Verkehrsmittel, Parkmöglichkeiten, Zugang von Parkmöglichkeit zum Angebot selbst). Aufgrund der Vielzahl an Wegen in den Erholungswäldern lassen sich allerdings durchaus auch Waldwege finden, die ohne größere Maßnahmen zumindest für die Zielgruppe mobilitätseingeschränkter Menschen geeignet sind. Sie erfüllen bereits Mindestanforderungen an "Barrierefreiheit" (bspw. Belag und Gefälle). Die Befragung der Unteren Forstbehörden, an der 38 von 46 Stadt- und Landkreisen teilgenommen haben, hat diesbezüglich ergeben, dass ein Großteil der Teilnehmenden (30 Antworten, n=38) der Auffassung ist, bei ihnen gebe es Waldwege, die sich zur barrierefreien Erholung eignen. Bei der Frage, ob auch als barrierefrei "ausgewiesene" Angebote zur Erholung im Wald vorliegen, reduziert sich die Zahl der positiven Antworten auf 16 von 38 Unteren Forstbehörden.

Informationsbezogene Barrieren

An den Sachverhalt, dass es deutlich weniger "ausgewiesene" Angebote als potenzielle Möglichkeiten zur barrierefreien Walderholung gibt, schließen sich die informationsbezogenen Barrieren an, die für Menschen mit Beeinträchtigung auch bei der Walderholung ein grundlegendes Hindernis darstellen. Erst mit Hilfe von Informationen können Angebote zur Walderholung mit den eigenen Ansprüchen, Wünschen und Fähigkeiten abgeglichen werden. Deshalb sind für einen großen Teil der potenziellen Nutzerinnen und Nutzer Informationen zu den Eigenschaften barrierefreier Angebote von grundlegender Bedeutung. Nur so kann eine vertrauensvolle Entscheidung zum Besuch getroffen werden. Dies spiegelt auch die Befragung Betroffener wider: Der Großteil der Befragten sieht hier ein Defizit und findet es wünschenswert, dass zum Beispiel Gemeinden oder die Forstverwaltung Informationen über barrierefreie Routen sammeln und bereitstellen. Diese Informationen sollten entsprechend der Zielgruppen in verschiedenen Formaten erhältlich sein (zum Beispiel Print- und Digitalversion, Anforderungen an "digitale Barrierefreiheit" erfüllt) und die gesamte Zugänglichkeitskette berücksichtigen (vgl. Abb. 3).

Emotionale und mentale Barrieren

Emotionale Barrieren, die auf gesellschaftlichen Prägungen beziehungsweise kulturellen Schemata beruhen, können verhindern, dass Menschen mit Beeinträchtigung neu geschaffene Angebote auch wahrnehmen. So war es einem Teil der befragten Betroffenen nicht bewusst, dass in Baden-Württemberg bereits Angebote zur barrierefreien Erholung im Wald existieren. Neben mangelnder Informationsverfügbarkeit ist dieser Umstand offensichtlich auch auf ein über die Jahre gewachsenes Selbstverständnis zurückzuführen, man habe als Mensch mit Beeinträchtigung in der Regel im Wald nichts zu suchen. Funktionale Zugänglichkeit zu schaffen, reicht daher nicht aus. Um emotionale Barrieren zu überwinden, sollte ein integrierter Ansatz entwickelt werden, der Menschen mit Beeinträchtigung auch aktiv ermutigt, Angebote wahrzunehmen.

Mentale Barrieren beruhen – ebenso wie emotionale Barrieren – auf kulturellen Schemata, berücksichtigen allerdings vor allem die Rolle der Institutionen, die das Angebot machen. Fehlendes Bewusstsein ("das geht doch gar nicht") kann verhindern, dass Verantwortliche sich der Aufgabe stellen, barrierefreie Angebote zu unterbreiten. Mentale Barrieren fanden im Rahmen der Befragung der Unteren Forstbehörden insofern eine Bestätigung, als eine Anlage beziehungsweise Ausweisung von barrierefreien Angeboten zur Erholung im Wald von einigen Unteren Forstbehörden als "meist nicht zu realisieren" betrachtet wird (acht Antworten). Die Hälfte der Behörden, die so antworten, findet die Anlage beziehungsweise Ausweisung von Angeboten allerdings gleichzeitig "wünschenswert". Dies ist auch die Haltung der meisten Forstbehörden im Land, die der Machbarkeit entsprechender Angebote weniger kritisch gegenübersteht (insgesamt 27 Antworten, n=42).

Tatsächlich wurde von den Unteren Forstbehörden im weiteren Verlauf der Befragung "Fehlendes Bewusstsein" nicht nur in Bezug auf Anforderungen an und Möglichkeiten zur Umsetzung barrierefreier Angebote eingeräumt. Als Hindernisgrund wurde häufig auch die fehlende Kenntnis über mögliche Nachfrage nach barrierefreier Walderholung genannt. Insofern liegt hier offensichtlich ein wechselseitiges Informationsproblem vor.

Wo wurden Barrieren bereits reduziert?

Abb. 5: Barrierefreier Weg über das Hochmoor auf der Hornisgrinde und weitere Beispiele barrierefreier Waldwege.

Möglichkeiten zur barrierefreien Erholung in Baden-Württembergs Wäldern existieren bereits, allerdings handelt es sich bei den ausgewiesenen Angeboten meist um Angebote in besonderer naturräumlicher Lage (s. Abb. 5 und 7). Die meisten Verbesserungen hinsichtlich der Zugänglichkeit von Natur- und Walderholungsangeboten sind etwa im Kontext von forstlichen Bildungseinrichtungen oder Großschutzgebieten zu finden. Wegen des besonderen Bildungsauftrags wurde hier Aspekten der Zugänglichkeit vergleichsweise früh Aufmerksamkeit gewidmet. Viele Angebote haben allerdings einen starken Ausflugs- beziehungsweise Reisecharakter. Das heißt, sie können kaum einer alltäglichen Erholungsnutzung von Wald dienen. Zudem erfüllen die Informationen über diese Angebote nur teilweise die Ansprüche von Barrierefreiheit. Sowohl hinsichtlich der Zugänglichkeit als auch des Umfangs der Informationen bestehen Defizite. Im Gegensatz dazu sind ausgewiesene Angebote zur alltäglichen barrierefreien Natur- beziehungsweise Walderholung selten. Diese reduzieren sich häufig auf städtische Parks und Gärten. Erst in jüngster Zeit sind einige positive Beispiele entstanden, die die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Beeinträchtigungen an der Natur- und Walderholung erhöht haben (s. Abb. 2, 4 und 5).

Empfehlungen

Barrierefreie Angebote zur Erholung im Wald müssen nicht immer komplexe Großprojekte sein, die es möglichst vielen Menschen erlauben, mit einer möglichst gleichen Erfahrungsqualität teilzunehmen. Wichtig ist allerdings, dass gerade auch bei kleineren zielgruppenspezifischen Angeboten nach den Baumaßnahmen auch angemessene Informationen bereitgestellt werden. Mit Blick auf die Naturerholung stellen Mobilitätseinschränkungen die größte Gruppe der Einschränkungsformen dar. Da sich Waldwege mit einigen wenigen Mindestanforderungen (bspw. Belag und Gefälle) in vielen Fällen für mobilitätseingeschränkte Menschen zur Erholung eignen, können diese zur Teilhabe an einer alltäglichen Naherholung beitragen. Auf diesem Weg kann bereits ein großer Teil der Menschen mit Beeinträchtigung erreicht werden. Daneben sollte es allerdings vermehrt Angebote geben, die einen behinderungsübergreifenden Ansatz verfolgen, so dass auch Menschen mit anderen Einschränkungsformen (z.B. Sehbehinderung oder geistige Beeinträchtigung) eine Teilhabe an der Naturerholung ermöglicht wird, ohne dafür jedes Mal eine "weite Reise" antreten zu müssen.

Angebote sollten grundsätzlich bedarfsorientiert und diesbezüglich verhältnismäßig sein. Daher ist es unbedingt nötig vorab die jeweilige Nachfrage nach barrierefreien Angeboten festzustellen und den Umfang der Angebote beziehungsweise die Projektgröße daran auszulegen. Die Lageauswahl sollte neben der Nachfrage und der Wegebeschaffenheit auch davon abhängig gemacht werden, wie der räumliche Kontext aussieht (bspw. Lage in der Nähe von Altenheim oder Förderschule, Anbindungsmöglichkeit am Öffentlichen Personennahverkehr). Alle Fragen klären sich also am besten im direkten Austausch mit den Institutionen, die Betroffene unterstützen, den Kontakt herstellen und das Feedback zu geplanten und umgesetzten Maßnahmen organisieren können. Wie wichtig Letzteres ist, zeigen viele gut gemeinte Vorhaben, bei denen aus Unwissenheit kleine Planungsfehler zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt haben (s. Abb. 6). Im weiteren Verlauf kann sich aus kleinen lokalen Projekten dann ein regionales oder überregionales Engagement entwickeln. Auch unter gewerblichen und kommunalpolitischen Gesichtspunkten ist Barrierefreiheit inzwischen ein Qualitätsmerkmal. So können Kommunen und Tourismusorganisationen damit werben, dass ihre Naturräume für Anwohnerinnen und Anwohner sowie Gäste auch barrierefrei erlebbar sind.

Die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen ist aufgrund verbreiteter emotionaler und mentaler Barrieren ein sensibles Thema. Es muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen werden, das Thema Behinderung zu normalisieren und "Teilhabemöglichkeit" nicht auf ein völlig außergewöhnliches Bedürfnis zu reduzieren. Im Wald bestehen zahlreiche Ansatzpunkte, den gängigen Anspruch multifunktional und nachhaltig zu wirtschaften, auch diesbezüglich in praktisches Handeln umzusetzen.