In Laubwäldern, wo lange braune und graue Farbtöne oder das Weiß des Schnees die Wahrnehmung geprägt haben, kehren mit den Frühjahrsblühern die bunten Farben zurück. Dabei ist die Geschwindigkeit ihres Erscheinens und die Üppigkeit der Blüte jedes Jahr aufs Neue ein gleichsam faszinierendes wie geheimnisvolles Naturschauspiel.

Bei Spaziergängen unter der noch schüchternen Frühjahrssonne sollte der Blick daher häufiger nach unten als in die noch kahlen Baumkronen schweifen. Im braunen Laub des Vorjahres tauchen, motiviert durch die steigende Temperatur im Oberboden, zunächst winzige grüne Blätter und erste bunte Blüten auf. Kurze Zeit später sorgen weiße Teppiche aus Buschwindröschen (Anemone nemorosa), gemischt mit schwefelgelben Waldschlüsselblumen (Primula elatior), dottergelbes Scharbockskraut (Ranunculus ficaria)und blaue Leberblümchen (Hepatica nobilis), violette Veilchen (Violaceae) und ein vielfarbiger Lerchensporn (Corydalis cava) für eine einzigartige Waldatmosphäre, gegen die das satte Grün des Sommers fast langweilig erscheint.

(Über-)Leben im Zeitraffer

Die krautigen Frühblüher aus unterschiedlichen Pflanzenfamilien zählen botanisch zu den mehrjährigen Stauden und hier speziell zur Gruppe der Geophyten (aus dem Griechischen: Ge = Erde und phyton = Pflanze).

Im Winter völlig verschwunden, ist das Geheimnis der Erdpflanzen folglich unter Tage zu suchen. Als Überwinterungsorgane kommen Zwiebeln (Bärlauch, Allium ursinum), Knollen (Scharbockskraut) oder Wurzelstöcke (Buschwindröschen) vor, die für die Frühjahrsblüher noch eine weitere überlebenswichtige Funktion haben. In ihnen sind Nährstoffe und Energie gespeichert, die trotz der noch niedrigen Temperaturen im März und April ein schnelles Wachstum ermöglichen.

Geschwindigkeit ist für die kleinen Krautigen am Waldboden das Allerwichtigste, weil im Mai, wenn die Bäume mit ihren Kronen oben das Licht "ausmachen", von der Befruchtung bis zur Samenreife alles erledigt sein muss. Bei dicht belaubten Baumkronen erreichen nur noch Bruchteile des vollen Tageslichtes den Waldboden und machen die Photosynthese für viele Arten dort unmöglich.

Durch evolutionäre Anpassung haben die Frühjahrsgeophyten daher eine extrem verkürzte Entwicklungszeit und vermeiden so den sommerlichen Lichtmangel am Erdboden. Beim Laubaustrieb haben sich bereits etliche Arten wieder in die Erde zurückgezogen. Dort warten sie auf ihren nächsten Auftritt im Frühling des Folgejahres.

Zeiger für alte Waldstandorte

Je nährstoffreicher ein Waldstandort ist, desto artenreicher ist in der Regel auch seine
Geophytenflora. Häufig findet man Frühblüher in alten Eichen- und Buchenbeständen. Neben den standörtlichen Voraussetzungen ist auch die Beständigkeit der Bestockung von nicht unerheblicher Bedeutung für das Artenspektrum eines Waldes. Die Forstwissenschaft spricht hier von "historisch alten Wäldern" und meint Bestände, die seit mehreren hundert Jahren fortwährend bewaldet sind.

Das Alter des aktuellen Baumbestandes und die Naturnähe sind dabei zunächst von nur sekundärer Bedeutung. Weil die Fortpflanzung vieler Frühjahrsblüher vegetativ über Ablegerbildung erfolgt und die Samen häufig durch Ameisen verbreitet werden (Myrmekochorie, siehe Kasten), dauert die Neubesiedlung von Flächen lange und ist
bei isolierter Lage nahezu unmöglich. Daher gelten unter den Waldpflanzen auch einige Frühjahrsblüher wie Bingelkraut (Mercurialis perennis)oder Leberblümchen als Zeigerarten für historisch alte Wälder.

Untersuchungen aus England haben gezeigt, dass das Bingelkraut für die Besiedlung neuer Waldflächen, die an alte angrenzen, etwa 150 Jahre benötigt. Leberblümchen können mehrere Jahrzehnte alt werden. So ist die Kartierung und Interpretation der Flora zusammen mit schriftlichen Quellen, Indizien vor Ort - wie etwa alten Grenzsteinen - ein wichtiger Forschungsansatz bei der Identifizierung alter Waldstandorte.

Sichtbare Vielfalt

Über den Erhalt der Biodiversität wird angesichts ihrer Bedrohung viel geredet, in vielen Wäldern ist sie durch die Farben der Frühblüher auch für den ungeübten Betrachter im Frühjahr besonders gut zu erkennen. Damit hat die Wahrnehmbarkeit der biologischen Vielfalt im Wald schon zu Beginn der Vegetationszeit einen ersten Höhepunkt erreicht.

Im Jubiläumsjahr anlässlich des 200. Geburtstags von Charles Darwin und 150 Jahre nach der Veröffentlichung seiner Evolutionstheorie im Buch "Über die Entstehung der Arten" bestätigen auch die Frühjahrsgeophyten in ihrer speziellen ökologischen Nische die von Darwin begründete Theorie von der Entwicklung des Lebens, der Evolution.

Damit diese Erfahrung möglichst viele Waldbesucher machen können und die Blumen nicht noch schneller vergehen als in ihrem ohnehin engen natürlichen Zeitfenster, sollte man sie immer dort belassen, wo sie hingehören.

Auf den Geschmack gekommen - Samenausbreitung durch Ameisen

Viele Waldpflanzen bedienen sich bei ihrer geschlechtlichen Vermehrung der Hilfe von Ameisen. Die Insekten kümmern sich nicht nur bei Leberblümchen, Lerchensporn oder Buschwindröschen um die Ausbreitung der Samen.

Bei der als "Myrmekochorie" bezeichneten Pflanzenverbreitung, die bei Frühblühern häufig ist, haben es die Ameisen nicht auf den Samen selbst abgesehen. Sie interessiert der gehaltvolle, am Samen befestigte, Ölkörper. Dieses "Elaiosom" verbreitet ameisenspezifische Duftstoffe. 

Animiert durch den Geruch, verschleppen die Ameisen das Elaiosom inklusive Samen zu ihrem Nest. Auf dem Weg dorthin bleiben bereits einige Samen auf der Strecke, ihr überwiegender Teil wird nach dem Verzehr des Ölkörpers im Nest als "Müll" entsorgt. Die Elaiosomen dienen somit einzig und allein als Lockmittel für die Ameisen, die dadurch die Pflanze über größere Distanzen verbreiten.